Das Sinai-Syndrom
Woher kommt es, dass so viele Menschen ins Schwärmen geraten, wenn sie aus der Wüste zurückkehren?
Ist es nicht tagsüber unerträglich heiß, nachts dagegen frostig? Gibt es dort nicht Schlangen und Skorpione? Dringt nicht der Sand zwischen die Zähne und in alles, was man dabei hat? Muss man dort nicht auf alles verzichten, was einem lieb ist? Ist die Wüste nicht feindselig und trostlos – ein Ort, den man fliehen sollte?
Woher kommt es, dass es Menschen gibt, die nach ihrer ersten Wüstenreise weinend abreisen und zu Hause tagelang wie benommen umher taumeln? Warum zieht es manche immer wieder dorthin zurück, Jahr um Jahr??
Es ist das Sinai-Syndrom!
Wer vom Sinai-Syndrom betroffen ist verzichtet mit größter Leichtigkeit auf alle Annehmlichkeiten, die er zu Hause schätzt.
Bad, WC, fließendes Wasser, Waschmaschine, Strom, Computer, Telefon, ein bequemes Bett? Alles unwichtig! Wer vom Sinai-Syndrom betroffen ist empfindet es als das höchste Glück, einfach nur in der Wüste zusammen mit Beduinen um ein kleines Feuer zu sitzen, heißen Tee zu schlürfen und sich abends zum Schlafen auf eine Decke in den Sand zu legen.
Schlangen und Skorpione? Sieht man nur mit viel Glück. Die Schlangen sind schön, aber selten.
Trostlos? Die Wüsten, in die man als Tourist geht sind von zauberhafter Schönheit und bergen atemberaubende Landschaften.
Der Sand? Ja, der ist überall, aber wer die Wüste liebt gewöhnt sich an den Sand. Nach Europa zurückgekehrt lächelt der Sinai-Süchtige still in sich hinein, wenn aus der Kleidung heller Sand rieselt und er spürt neben der Wehmut Freude und Erfüllung im Herzen.
Klingt kitschig und wirklichkeitsfremd?
Wir Sinai-Liebhaber sehnen uns nach ihr, nach der Wüste, der nackten Haut der Erde. Tag und Nacht sind wir im Freien, nur das Dach der Akazienkronen oder den weiten Himmel über uns. Nachts dort am Feuer zu sitzen – geborgen im Universum. Auf dem Rücken zu liegen, wenn es ganz still geworden ist, das Gesicht in den Sternen, schlafend genau da, wo der Himmel mit der Erde zusammentrifft.
Und dann die Menschen! Uns begeistert, wie sie nie ihre Geduld verlieren. Wie sie gelassen bleiben selbst in den schwierigsten Situationen, scheinbar jedes Problem lösen können. Wie sie die anderen Menschen einfach annehmen, wie sie sind. Wir sind fasziniert vom starken Zusammenhalt in Stamm und Familie.
Diese Wüstenbewohner kommen mit so wenig aus und sie wissen, wie man in der Wüste überlebt. Dazu sind sie außerordentlich gastfreundlich, können wunderbar kochen und haben viel Humor.
Wenn die Frauen einen zum Tee einladen, dann strahlen ihre Augen und man hat das Gefühl, es gäbe für sie keine größere Freude, als uns zu bewirten.
Kann das alles wahr sein?!
Werden die Frauen dort nicht unterdrückt, geschlagen und ins Haus gesperrt? Werden die Mädchen nicht beschnitten und im jungen Alter zwangsverheiratet?
Ist nicht ihr Islam eine völlig rückständige Religion? Und was ist mit der Blutrache?
Außerdem gibt es in den Wüsten immer wieder Entführungen, Geiselnahmen und Terroranschläge.
Man muss sich vor Augen halten: Der Reisende sieht und weiß nur wenig von den kulturellen und sozialen Hintergründen der Menschen, die ihn da durch die Wüste führen. Er erlebt nur einen kleinen Ausschnitt der dortigen Welt.
Faszinierend ist das, was wir auf einer Reise in die Wüste beobachten und erleben vor allem als Gegenbild zu der Welt hier.
In der „Festung Europa“ leben die Menschen über-individualisiert und anonymisiert zwischen Vereinsamung und Masse. Beziehungen sind schwierig geworden. Zur Partnersuche nutzen viele heute das Web, obwohl sie eigentlich auf arrangierte Ehen von oben herablächeln. Ehen zerbrechen oft, obwohl sie frei und einvernehmlich eingegangen werden und angeblich auf Liebe basieren.
Hier läuft nichts mehr ohne Geld, hier ist alles dem Prinzip des Konsums untergeordnet. Alles ist genau getaktet, Zeit verläuft linear, ist immer knapp, und scheint sogar käuflich. Hier läuft alles über Din-A-4 Papier, über Paragraphen und Bestimmungen: der Mensch als Nummer. Wir fühlen uns oft nur noch verwaltet.
Von den Prozessen der Natur sind wir weitgehend entfremdet, gegessen wird aus dem Supermarkt. In unseren Ställen stehen tausende von Tieren auf einmal; Kühe sehen keine Wiesen mehr, Schweine können sich oft nicht einmal bewegen, während unsere Haustiere mit Plüschkörbchen und Diamantenbesetzten Halsbändern verhätschelt und vermenschlicht werden und für den Youtube-Upload nett posieren müssen.
Die Alten leben in eigenen Heimen, oft vereinsamt, deprimiert, dement.
Unsere Welt ist undurchsichtig und verwirrend. Wer versteht schon die Finanzwelt, die aber unser ganzes Dasein beeinflusst? Die große Freiheit verlangt einerseits oft nach zu vielen Entscheidungen, andererseits haben wir das Gefühl, nur Zuschauer zu sein und an der Gestaltung unserer Welt gar nicht teilhaben zu können.
Arbeitsprozesse verschiedenster Bereiche reduzieren sich mehr und mehr auf den Umgang mit Bildschirm und Mausklick. „Die Wirtschaft“ soll wachsen, …aber keiner weiß eigentlich so recht, wohin und wozu.
Dazu kommt noch die ganze Misere der Globalisierung: Gnadenlose Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskräften in südlichen Ländern, Umweltzerstörung, Krieg um Rohstoffe, usw. und der Klimawandel!
Dort jedoch – so erscheint es uns – , die Nomaden an ihren Feuern: sie leben in Familie und Stammesgemeinschaft, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind echt und direkt, von Gesicht zu Gesicht. Kontakte, die man hat und der Ruf, der einem vorauseilt sind wichtiger als Geld, ein Tee mit Freunden wichtiger als Geschäfte. Zeit ist im Überfluss vorhanden und verläuft zyklisch, sie ist nicht in Minuten zerstückelt. Die Zusammenhänge der Natur werden direkt erfahren: Holz und Dung gibt Feuer, Milch kommt aus dem Euter der Ziege, die Dattel vom Baum, alles Öko. „Die Wirtschaft“ gibt es so gar nicht, sondern immer wieder die Suche jedes Einzelnen nach einer neuen Gelegenheit, das nötigste herbeizuschaffen; denn ausreichend ist genug. Geld muss ausreichen, aber nicht vermehrt oder angehäuft werden. Wer nichts mehr hat fragt die anderen. Habe ich einen guten Ruf und gelte selber als freigebig dann wird man auch mir etwas geben.
Die meisten Wüstenfahrer legen bei sich zu Hause eine kleine Erinnerungsecke an, die fast schon etwas von einem Altar hat: ein Tischchen oder eine Vitrine, wo man Steine, Sand, Fundstücke aus der Wüste, vielleicht zusammen mit dem Lieblingsfoto aufbaut. Ab und an blickt man darauf, still lächelnd, mit einem kleinen Seufzer und erinnert sich an die wunderbaren Nächte unterm Sternenzelt, an die zauberhaften Landschaften, an das köstliche Brot aus der Asche, an den süßen Tee und die lachenden Gesichter der Araber.
Als Bildschirmschoner dient fortan das Lieblingskamel vor dem Hintergrund einer schönen Felswand.