2 Aufsätze

1 Beduinen im Südsinai und ihre Kamele

Der Aufsatz befindet sich in folgendem Buch: Birgitta Huse, Irmgard Hellmann de Manrique & Ursula Bertels (Hg.): Menschen und Tiere weltweit – Einblicke in besondere Beziehungen Reihe Gegenbilder, Bd. 7, Verlag Waxmann Münster 2011 www.waxmann.com

„Attention, careful! Gut festhalten, bitte!“ ruft Musa Tanja zu, die eben zum ersten Mal in ihrem Leben auf den Rücken eines Kameles geklettert ist. Das Kamel ist ein einhöckeriges Dromedar, eine Stute, heißt „Honig“ und kniet mit eingeklappten Beinen auf dem Boden. Tanja hält sich mit beiden Händen am vorderen Sattelknauf fest. Als Musa mit der Zunge schnalzt, stützt Honig sich auf die Vorderknie und klappt dann ihre dünnen, langen Hinterbeine ganz aus. Wer in diesem Moment nicht aufpasst, purzelt womöglich über den Kamelhals in den Sand! Tanjas Freundin und andere Reiseteilnehmerinnen und –teilnehmer haben unter lautem Lachen und Gekreische alles mit ihren Digitalkameras dokumentiert, bevor sie nun selbst den Aufstieg wagen. Die Beduinen wissen genau, worauf sie achten müssen, damit ihren Reisegästen nichts zustößt, und sind sich ihrer Verantwortung bewusst. (Als „Beduinen“ bezeichnet man arabische Stammesgruppen, die in der Wüste leben. Sie selbst nennen sich „Araber“.) Die deutsche Gruppe wird zwei Wochen lang zusammen mit Musa und seinen Freunden und Brüdern durch das Innere der Sinaiwüste reiten und nachts unter freiem Himmel schlafen. (Die Autorin nahm als Studentin an einer solchen Reise teil und lernte dabei eine Beduinenfamilie kennen, bei der sie eine Weile lebte und zu der eine enge Beziehung entstand. Nachdem sie Arabisch lernte und immer wieder zu diesen Menschen zurückkehrte, organisierte sie mit der Familie gemeinsam Reisen durch die Wüste.) Für viele Beduinen im Südsinai sind solche Kameltouren eine der wenigen Möglichkeiten, Geld zu verdienen. An ägyptischen Verhältnissen gemessen ist dieser Verdienst sogar relativ gut. In einem Monat mit vielen Reisegästen kann ein Beduine mehrere hundert Euro einnehmen. Hiermit müssen jedoch lange Phasen überbrückt werden, in denen keine Touristinnen und Touristen kommen. Wer kein Kamel sein eigen nennt und „nur“ als Koch arbeitet, erhält sehr viel weniger. Als Arbeiter in einer Fabrik erhält man z. B. in einem Monat bis zu 30 €, als Lehrer ca. 40 €. Weitere Einkunftsmöglichkeiten sind Handel, Fischfang sowie der Verkauf von Handarbeiten und schönen Steinen an Touristinnen und Touristen. Einige Beduinen betreiben eine Autowerkstatt, einen kleinen Laden oder ein Hotel.

Kamele als Wüstentiere
Kamele haben – ähnlich wie viele Pferderassen – eine durchschnittliche Lebenserwartung von 20-25 Jahren. Sie werden ab dem zweiten Lebensjahr trainiert. Man legt ihnen ein Seil um den Kopf und lehrt sie, auf Befehl niederzuknien. Als nächstes müssen sie sich daran gewöhnen, erst eine Decke und dann einen hölzernen Sattel auf dem Rücken zu erdulden. Ab dem vierten Jahr kann man ihnen ein richtiges Halfter anlegen und beginnen, sie zu reiten. Etwa im siebten Jahr kann ein Kamel einen Menschen und über hundert Kilo Gepäck tragen. Ein gut erzogenes Kamel akzeptiert auch fremde Reiterinnen und Reiter und gehorcht sogar den Befehlen der Touristinnen und Touristen, wenn diese einige Worte und Signale lernen. Die enge Beziehung zwischen Arabern und ihren Kamelen besteht schon seit vielen tausend Jahren. Nur mit seiner Hilfe konnten die Menschen so weit in die Wüste vordringen, da es kein anderes derart genügsames Reittier gibt. Kamele haben nahezu wundersame Eigenschaften. So können sie zum Beispiel große Wasserverluste mühelos ausgleichen: Sie haben die Fähigkeit, innerhalb von nur wenigen Minuten weit über hundert Liter zu trinken. Im heißen Sommer bei eher trockener Nahrung können sie einige Tage damit auskommen. Im Winter, wenn es nicht allzu heiß ist und die Tiere frisches Grün zu Fressen finden, können sie mit diesem einmaligen Trunk mehrere Wochen überdauern. Außerdem geht ihnen beim Atmen, Schwitzen und anderen Ausscheidungen kaum Wasser verloren. Nicht nur dadurch eignen sie sich hervorragend zur Durchquerung wasserarmer Wüsten. Auch mit ihren breiten Füßen, mit einem dicken Polster aus Bindegewebe, den so genannten „Schwielen“, sind die Kamele bestens an das Gehen auf Sand und Wüstenboden angepasst. Die Menschen im Mittleren Osten nutzten Kamele, um weite Strecken zu reiten und um Handelskarawanen zusammenzustellen. So wurde beispielsweise schon vor 3000 Jahren Weihrauch und andere exotische Güter aus den fernsten Winkeln Arabiens über tausende von Kilometern auf Kamelrücken Richtung Europa transportiert. Das Leben der Beduinen wäre ohne das Kamel undenkbar. Sie bewirtschaften seit jeher die kargen Zonen zwischen dem fruchtbaren Ackerland und der totalen Wüste, wo kein Leben mehr möglich ist, also die badiya. Dort lebten sie als Hirtennomaden und zogen mit ihren Schafs- und Ziegenherden von Weidegebiet zu Weidegebiet. Dabei dienten ihnen die Kamele dazu, ihre Wohnzelte und ihren gesamten Hausrat von einem Ort zum nächsten zu transportieren. Heute leben nur noch wenige der etwa 60 000 Beduinen des Sinai als Nomaden. Die meisten wohnen jetzt in kleinen Dörfern oder an den Rändern der Städte. Man schätzt, dass es weltweit etwa 20 Millionen Kamele gibt (Angabe der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der UN (s. www.faostat.fao.org). Heute gibt es kaum wild lebende Kamele, nur in Australien findet man eine ausgewilderte Population, die ursprünglich von Europäern eingeführt worden war und mit bald einer Million Stückzahl inzwischen zu einer regelrechten Plage herangewachsen ist. Die größten Kamelherden gibt es im Sudan, in Somalia und in Mauretanien in Afrika. Dort besitzt manch reicher Nomade über hundert Tiere. Im Sinai dagegen hatten die Familien immer schon sehr kleine Bestände. Die alten Leute sagten, dass kaum jemand sich mehr als fünf Kamele leisten konnte. Auch heute besitzen die meisten Familien wenn überhaupt ein oder zwei Kamele. Zusätzlich haben die meisten Haushalte kleine Herden von Ziegen und Schafen, selten mehr als 20 Tiere. Ein preiswertes Kamel findet man schon für den Gegenwert von etwa 200 Euro. Ein Kamel mit Stammbaum allerdings kann auch über tausend Euro kosten. Nutzte man Kamele bis vor etwa vierzig Jahren – neben dem Esel – noch als Reit- und Lasttier, so gibt es hierzu heute andere Möglichkeiten. Wer größere Dinge transportieren muss, benutzt jetzt Jeeps oder sog. „Pick-Up’s“, also kleine Lieferwagen mit starkem Motor und großzügiger Ladefläche. Es führen inzwischen Teerstraßen oder Pisten bis in alle Gegenden und zu allen Siedlungen in der Wüste. Bis vor vierzig Jahren mussten die Männer auf ihren Kamelen mehrere hundert Kilometer weit reiten, um Dinge zu kaufen oder einzutauschen, die sie im Südsinai nicht selber herstellen konnten. Heute kann man überall einkaufen: In den Läden der Städte oder bei „Fliegenden Händlern“, die Ihre Waren – auch Obst, Gemüse und Tierfutter – bis in abgelegene Täler fahren. Die Beduinen veranstalten zu bestimmten Gelegenheiten, etwa bei Hochzeiten oder Pilgerfesten, heute auch für Touristinnen und Touristen Kamelrennen. Den Tieren wird eine rote Nummer auf den Hals gemalt und sie traben weite Täler entlang in eindrucksvollem Lauf bei bis zu 50 km/h um die Wette. Dem Sieger winkt Ruhm und eine kleine Geldsumme. Es gilt die Devise „Mitmachen ist alles“ und man muss kein Profi-Jockey sein oder ein besonderes Kamel haben. Kamelrennen gibt es übrigens auch in Deutschland, so etwa erstmals im Jahr 2000 in Berlin oder 2007 in Magdeburg. Nirgends aber treibt dieser Wettbewerb seltsamere Blüten als in der Golfregion, wo oft kleine Kinder aus Südostasien zwangsweise als Jockeys eingesetzt werden. In einigen Ländern werden sie inzwischen durch Roboter ersetzt, etwa in Qatar oder Abu Dhabi. Kamelstuten kann man melken. Ihre Milch ist äußerst reichhaltig, aber schwierig zu verarbeiten. Im Sinai spielt sie deshalb keine Rolle, anders als in einigen afrikanischen Ländern, wo aus Kamelmilch (neuerdings sogar in Fabriken) unterschiedliche Produkte hergestellt werden, zum Beispiel Käse. In der Schweiz forscht der Somali Zakaria Farah zu Verarbeitungsmöglichkeiten von Kamelmilch (www.web.ethlife.ethz.ch/articles/sciencelife/kamlebuch.html). Ähnlich wie Stutenmilch von Pferden hat auch Kamelmilch einen hohen medizinischen Nutzen, etwa bei Hauterkrankungen und Allergien. Man kann Kamelfleisch essen, aber im Sinai ist ein Kamel viel zu wertvoll, als dass man es schlachten würde. Es geschieht nur selten und wenn, dann aus besonderem Anlass. Die Haare des Kamels lassen sich gut zu Wolle verarbeiten, aber das machen die Beduinenfrauen heute nur noch sehr selten, weil sie billigere und praktischere Materialien nutzen. Ein besonderer Teil des Kamels wird jedoch immer noch genutzt: der Kot. Er fällt in walnussgrossen Kugeln zu Boden und ist schon innerhalb weniger Stunden so trocken, dass er als Brennmaterial Verwendung findet. Er erfüllt auch noch einen anderen Zweck: Wenn die Männer draußen in der Wüste unterwegs sind und Lust haben, Shiza zu spielen, das unserem Dame-Spiel ähnlich ist, dann sammelt der eine von ihnen weiße Steine und der andere … die Mistkugeln des Kamels, die als schwarze Spielsteine auf Spielfeldern, die mit dem Finger in den Sand gezeichnet werden.

Was Kamele fressen
Im Südsinai regnet es oft nur einmal pro Jahr. Das Regenwasser schießt dann mit ungeheurer Wucht die Berge hinab, sammelt sich in den Senken der Täler und vereinigt sich mit den Fluten aus anderen Tälern zu breiten Flüssen. Je nach Regenmenge versiegen diese irgendwann im Sand oder aber sie fließen durch das ganze Land, um sich schließlich ins Meer zu ergießen. Die ansonsten trockenen Flussbetten, auf arabisch wadi genannt, füllen sich nur in diesen wenigen Stunden oder Tagen mit Wasser. So ein Regenguss ist ein freudiges Ereignis und wird von den Menschen sehnsüchtig erwartet. Kaum haben sich die Wolken verzogen, verbreitet sich die Kunde darüber, wo genau es geregnet hat, wie viel und wohin das Wasser abgeflossen ist. Seit die Beduinen Mobiltelefone benützen (seit ca. zehn Jahren), weiß schon kurz nach dem Regen fast jedes Stammesmitglied genau über all dies Bescheid. Man begibt sich gleich zu den Zisternen und zu den natürlichen Felsbecken, in denen sich das Wasser gesammelt hat und schöpft das segensreiche Nass. Regenwasser, heißt es, sei wie Medizin. Musas Kamelstute „Honig“ war einmal lange Zeit sehr krank. Dann regnete es. Musa gab ihr von dem frischen Wasser zu trinken. Die Stute konnte sofort all ihren Unrat ausscheiden und war schon nach wenigen Stunden wieder gesund und munter. Die Pflanzen der Wüste sind so gut an die Verhältnisse angepasst, dass sie mit diesem wenigen Regen das ganze Jahr über leben können. Der Sand ist nämlich in seinen tieferen Schichten ein hervorragender Wasserspeicher. Es dauert nun einige Wochen oder Monate, bis Wüstenpflanzen wie zum Beispiel die Zilla (zilla spinosa) hoch gewachsen sind. Als die Beduinen noch nomadisierten (bis in die 70 er Jahre), war dann die Zeit gekommen, Kundschafter auszuschicken, um festzustellen, wo die besten Weidegebiete entstanden waren. Dann packte man die Zelte und den Hausrat auf die Kamele und begab sich zusammen mit den Viehherden dorthin. Die Frauen webten, flochten und knüpften damals aus gesponnenem Ziegenhaar und Schafswolle schöne Satteltaschen, Decken, Halfter und sogar Ziergurte, so dass die Kamele geschmückt werden konnten, wenn es losging. Es war für alle die schönste Zeit im Jahr. Heutzutage ziehen nur noch wenige Familien auf die Weidegebiete. Nachdem man geprüft hat, in welchen Tälern am meisten wächst, führt man die Kamele dort hin und überlässt sie sich selbst. Sie fressen nach eigenem Gutdünken und trinken selbständig aus Felsbecken, in denen Regenwasser steht. Manchmal kehren sie zum Trinken ins Dorf zurück und werden dann von ihren Besitzern wieder in die Täler getrieben. Kamele legen beim Fressen weite Strecken zurück, da sie an jedem Busch nur einige Stücke abbeißen und dann gleich weitergehen zur nächsten Pflanze. Der Umstand, dass man die Kamele sich selbst überlassen kann bedeutet für die Beduinen eine enorme Erleichterung – im Bezug auf die Arbeit, aber auch in finanzieller Hinsicht, denn die Kräuter der Wüste werden als Gottes Geschenk gesehen und kosten nichts. Allerdings gehört den Kamelen die Wüste nicht alleine, denn es gibt im Südsinai auch zwei Asphaltstraßen. Tragischerweise kommt es hin und wieder zu Unfällen, wenn die Kamele in ihrem gemächlichen Tempo über die Straße gehen und von den Fahrerinnen und Fahrern zu spät bemerkt werden. Wie aber findet man sein Kamel nach langen Wochen wieder? Man muss es suchen und fragt die Leute: „Habt ihr mein Kamel gesehen?“ Sollten die Gefragten es kennen, so werden sie dem Besitzer gleich sagen, ob und wann sie es gesehen haben. Sollten sie es nicht kennen, beschreibt ihnen der Besitzer das Aussehen. Vielleicht können sie sich dann erinnern, dass sie ihm begegnet sind. Diese Tiere sehen zwar für uns alle sehr ähnlich aus, ein Beduine aber kann sie ganz genau auseinander halten. Sie unterscheiden sich in der Farbe, im Körperbau, im Gesicht, an den Beinen – am ganzen Körper. Außerdem haben sie individuelle Brandmale. Wenn der Beduine sein Kamel wieder gefunden hat, kann es sein, dass er eine freudige Überraschung erlebt. Als Musa z.B. seine Honig-Stute nach langer Abwesenheit wieder sah, hatte sie ein kleines Fohlen bei sich, das er begeistert „Zucker“ nannte. Hat man die Kamele bei sich, werden sie meistens irgendwo neben oder hinter dem Haus, bzw. Zelt an einem Pflock angebunden. Das heißt, man muss sie füttern 5 und hin und wieder zu einer Tränke führen. Man kann selbst in der Wüste nach Futterpflanzen suchen und diese mit dem Jeep herbei transportieren, was aber sehr mühsam ist und kaum gemacht wird. Außerdem wächst zu wenig, weil es zu selten regnet. Im Normalfall kaufen die Beduinen große Säcke mit Mais, der in anderen Teilen Ägyptens angebaut wird. Zusätzlich kauft man beim Händler frisches Grünzeug aus Pflanzungen und Strohhäcksel. Viele Beduinen haben jedoch dafür nicht genügend Geld. Deshalb gewinnt seit etwa zwanzig Jahren – seit dem großen Tourismusboom im Sinai – noch eine kostenlose Futterquelle an Bedeutung: die Müllhalde. Sharm el-Sheikh ist ein beliebtes Urlaubsparadies: Weiß getünchte, hübsch angelegte Hotels mit Gärten und Swimmingpools reihen sich aneinander. Jenseits der Promenade mit vielen bunten Geschäften liegen die Strände. Es glitzert das hellblaue Meer, unter dessen Oberfläche sich faszinierende Korallenriffe befinden. Hunderttausende Touristen kommen aus aller Welt dorthin zum Schwimmen, Schnorcheln, Tauchen, Surfen, Genießen von Wellnessangeboten, sie brausen mit Quads durch die nah gelegenen Wüstentäler oder machen Ausflüge. Bei Tisch lässt man sich mit internationaler oder auch ägyptischer Küche verwöhnen. Auch Alkohol kann man trinken, obwohl fast alle der einheimischen Ägypter Muslime sind und das Trinken verachten. Alle Essensreste und Küchenabfälle landen mit dem restlichen Müll der Hotels und der Stadt in großen Plastiksäcken. Den ganzen Tag über sieht man hinter der Stadt Lastwagen mit diesen Säcken in ein nahe gelegenes Tal fahren. Wenn die Klappen geöffnet werden, damit sie auf die Halde gekippt werden können, stehen schon viele Beduinen, vor allem Frauen bereit. Sie schnappen sich einen Sack, gehen zur Seite und öffnen ihn. Alle organischen Abfälle breiten sie in der Sonne zum Trocknen aus. Finden sich Kleidungsstücke, Behältnisse oder sonst etwas Nützliches, verwahren die Frauen es in ihrem Zelt nahe der Müllhalden. Es gibt auch abgepackte Lebensmittel zum eigenen Verzehr. Den ganzen Tag legen die Frauen und Männer Speisereste auf Planen aus. Nach einigen Tagen haben sie mehrere Säcke mit getrockneten Resten gefüllt. Sie sammeln aber auch Pappkartons, weil selbst diese an die Tiere verfüttert werden können. Beides dient in den folgenden Wochen als Futter für die Ziegen, Schafe und Kamele. Andere Abfälle wie Glas und Metall können an ägyptische Händler verkauft werden. Manche Leute bleiben nur einige Tage auf den Müllhalden, andere haben sich bereits in der Nähe fest angesiedelt und Hütten aus Holz und Wellblech errichtet. Manchmal kommt es auf dem Müllplatz zu Konflikten, weil es zu viele Menschen sind, die Interesse an den weg geworfenen Dingen haben. Die Beduinen empfinden diese Arbeit im Allgemeinen nicht als demütigend. Obwohl Ekel erregender, beißender Geruch über dem Ort hängt und ständig unzählige von Fliegen umher schwirren sagen sie: „Es ist schade um die Essensreste und all diese Sachen. Man kann sie noch gebrauchen. Wir sind arm und sind deshalb froh darum.“

Kamele und Touristinnen und Touristen
Nicht weit von den Müllhalden, aber weit genug entfernt, um sie weder sehen, noch riechen zu müssen, sieht man große Gruppen von Kamelreitern und -reiterinnen: Touristen und Touristinnen aus den Hotels der Stadt, die einen kleinen Ausflug gebucht haben. 20-30 Männer und Frauen, oft in Strandkleidung reiten lachend und scherzend über den Sand. Geführt werden sie von den Besitzern der Kamele oder deren Kindern, auch kleine Mädchen sind dabei. In den Hotels wird auf Plakaten und Flyern dafür geworben:

S o n n e n u n t e r g a n g s – K a m e l r i t t
Mitten in der Wüste, wo Beduinen leben, reiten wir zwei Stunden auf Kamelen durch die Wüste, um den Sonnenuntergang zu sehen und praktizieren das echte Beduinenleben. Nach der Ankunft am Beduinenzelt ruhen Sie sich aus, trinken echten Beduinentee mit Kräutern, rauchen eine Wasserpfeife und halten nach Sternschnuppen Ausschau. Preis: ab 25 US-Dollar /Person

Drei Fahrstunden vom Ort Sharm el-Sheikh entfernt befindet sich ein wichtiges Ausflugsziel: das Katharinenkloster mit dem Mosesberg. Dort soll Moses gemäß der alttestamentarischen Überlieferung von Gott die Tafeln mit den Zehn Geboten erhalten haben. Mehrere hundert Menschen steigen jede Nacht bis zum Gipfel des Berges hinauf, um von oben den Sonnenaufgang zu erleben. Der Weg ist gesäumt mit Beduinen, die den nächtlichen Wanderern ihre Kamele anbieten. Manch einer, der unten noch „genervt“ abgelehnt hat, ist nach einigen hundert Metern Aufstieg doch froh über das Angebot. Gäbe es nicht den Tourismus, hätte das Kamel heute im Sinai nicht mehr viel Bedeutung.

Bedu Love Parade
Wenn im Sinai heutzutage junge Beduinenmänner in einem Alter sind, wo sie beginnen, sich für Mädchen zu interessieren, dann kommen die Kamele zum Einsatz. Mit einem Pick-up könnte man zwar noch besser angeben, aber so etwas können die jungen Männer sich nicht leisten. Oft aber besitzen sie schon im Alter von elf, zwölf Jahren ein Kamel, das ihnen ihre Väter überlassen. Sie lernen von klein auf, sich um ihre Tiere zu kümmern und sie zu pflegen. Auch die Mädchen und Frauen beherrschen im Allgemeinen den Umgang mit Kamelen, genieren sich aber oft, auf diesen zu reiten und nutzen sie nur hin und wieder als Lasttier.

Manchmal schließen sich einige junge Burschen zusammen, um ein wenig umher zu reiten und sich in den Dörfern oder in der Stadt zu zeigen. Sie putzen sich zu diesem Anlass heraus, tragen ihr schönstes Hemd und darüber ein elegantes Jackett. Sie binden ihr Kopftuch auf neckische Art und besprühen sich mit Parfum. Dann legen sie prachtvolle Satteltaschen über die Sättel und schmücken ihre Kamele mit bunten Bändern und Quasten. Doch damit nicht genug. Junge Männer steigen heute nicht mehr auf das Kamel, ohne ihren Kassettenrekorder mitzunehmen (s. Abb). Je größer, desto besser. Reitet das Grüppchen dann durch die Wüste, drehen sie ihre Geräte in voller Lautstärke auf und lassen traditionelle Lieder, Pop und Schnulzen aus der Golfregion laufen. Kommen sie an eine Siedlung, so macht das bei den jungen Frauen großen Eindruck. Aber nicht nur dort: Auch die Reisenden in Tanjas Reisegruppe finden großen Gefallen daran und zücken begeistert ihre Kameras, wenn derart „aufgetakelte Junioren mit voller Beschallung“ an ihnen vorbei ziehen! Die meisten Reisegäste haben innerhalb der zweiwöchigen Kameltour ihre Reittiere lieb gewonnen. Manche werden Bilder „ihres“ Kameles später als Bildschirmschoner verwenden. Das langsame Dahinreiten auf Kamelrücken im gleichförmigen Rhythmus der Tiere versetzt manchen in meditative Stimmung. Die Nähe zu dem Tier hat etwas Anrührendes. Man ist beeindruckt von der Ruhe der Tiere, ihrer Geduld und ihren witzigen Minen, die man schnell menschlich zu deuten versucht ist: Man meint, die Kamele würden überheblich, erstaunt, empört, traurig, sehnsüchtig, verträumt oder neugierig drein schauen. Und: wer weiß, vielleicht ist ja etwas dran? Am Ende der Tour sagt Musa voller Anerkennung und Augen zwinkernd zu seinen Gästen: „All of you get the driving licence. Ihr habt euch für den Kamelführerschein qualifiziert.“ Und alle lachen. Mit innigen Umarmungen, manchmal sogar Tränen verabschieden sich die Deutschen von den Beduinen und machen sich auf den Weg zum Flughafen. „Komm doch wieder!“, sagt Musa zu Tanja. Weil sie während der Reise ein paar Wörter arabisch gelernt hat, gibt sie fast ein bisschen stolz die richtige Antwort: „Inshallah! Wenn Gott will.“

Literatur (weiterführend)
Joger, Ulrich & Moldrzyk, Uwe (Hg) 2002 Wüste. Begleitbuch zur Ausstellung, Darmstadt
Klute, Georg Nomaden in der Sahara, S. 108-113
Aurich, Brigitte Die Awlad Hamid: Hirtennomaden im Sudan, S. 114-123
Ritter, Hans Salz und Karawanen der Sahara, S. 124-137

Zum Eintauchen in beduinische Denk- und Lebenswelten eignen sich die Bücher von Salim Alafenisch, der als Kind in der Negevwüste Kamele hütete und heute als Ethnologe und Schriftsteller in Deutschland lebt,   z.B.

Alafenisch, Salim
2005    Der Weihrauchhändler, Zürich
2004    Die acht Frauen des Großvaters, Zürich

Biallas, Katrin
Jg. 1968, Studium der Ethnologie, Islamkunde, Judaistik und Vergleichenden Religionswissenschaft in München und Tübingen, 1998 Magisterarbeit über Beduinen im Staat Israel, 1991 Adoption in eine Beduinenfamilie im Sinai, seither jährlich lange Feldaufenthalte dort. Seit 2000 regelmäßig Organisation und Begleitung von Reisen im Sinai mit ethnologischem Schwerpunkt. Tätigkeit in der Erwachsenenbildung und an Schulen: Vorträge über Sinai, Beduinen, Tourismus und Islam. Seit 1999 freie Mitarbeit im (ethnologischen) Lindenmuseum Stuttgart: Führungen, Fortbildungen, Kinderprogramme. Mitarbeit bei Radiosendungen und Filmprojekten. in: Birgitta Huse, Irmgard Hellmann de Manrique & Ursula Bertels (Hg.): Menschen und Tiere weltweit – Einblicke in besondere Beziehungen Reihe Gegenbilder, Bd. 7, Verlag Waxmann Münster 2011 www.waxmann.com

2 Beduinenfrauen und Touristen auf der Halbinsel Sinai (Ägypten) 

Der Aufsatz befindet sich in folgendem Buch: Claudia Kalka, Sabine Klocke-Daffa (Hg.) Weiblich, Männlich, Anders? Geschlechterbeziehungen im Kulturvergleich Reihe Gegenbilder, Bd. 5, Verlag Waxmann Münster 2006
http://www.waxmann.com/buch2509
(Im Buch sind zusätzliche Bilder abgedruckt)

Ausflug in eine exotische Welt
Immer wenn in der Ferne die bekannten Staubwolken auftauchen und die Kinder freudig rufen: „Touristen kommen, Touristen kommen!“ unterbricht Salima ihre Hausarbeit (und manchmal sogar ihren geliebten Mittagsschlaf) packt ihr Bündel und geht hinüber zum Garten von Hajja Hsena. „Hajja“ nennt man die alte Frau, weil sie bereits die Pilgerfahrt (Hajj) nach Mekka gemacht hat, zweimal sogar. Ihr Garten ist ohne Zweifel der schönste in der ganzen Oase: unter den noch jungen Palmen, dem Christdorn, den Ölbäumen und der Dornakazie, in der immer zwitschernde Vögel spielen fühlt man sich ein wenig wie im Paradies. Die Touristen kommen in numerierten Jeeps und werden vom Reiseleiter in den Garten geschleust. Dort nehmen sie auf den Matten im Schatten der Bäume Platz. Die Hajja serviert süßen, mit Minze gewürzten Tee, während der Reiseleiter mit seinen Erklärungen beginnt. Davon allerdings versteht Salima nichts. Sie hat sich zusammen mit anderen Frauen und Mädchen des Dorfes vor der Touristengruppe niedergelassen und breitet ihren Perlenschmuck auf einem Tuch aus. Sie kann ihre Ware inzwischen auf englisch, hebräisch, italienisch und russisch anpreisen, denn das sind die Sprachen der Ausländer. Sie haben meist eine Pauschalreise „Baden am Roten Meer“ gebucht. Der Ausflug in ein Beduinendorf in der Wüste steht auf dem Programm. Klick klick – man hat die exotischen, verschleierten Frauen geknipst, vielleicht ein Kettchen gekauft, steigt wieder in den Jeep und freut sich aufs Hotel und das Meer. Wenn Salima auch nur den Gegenwert von ein, zwei Euro verdient hat, ist sie schon zufrieden. Wobei: zufrieden ist sie immer: „Al-hamdulillah“: „Lob sei Gott!“ . Die Beduinen sind Muslime. Gott ist derjenige, der einem hilft, seinen „Rizq“ zu finden, seinen Lebensunterhalt. Wenn sich der Mensch auch stets darum bemüht – er hat es nicht in der Hand. Man kann nie wissen, was kommen wird.

Wer sind die Beduinen?
Salima hat zwar die ägyptische Staatsangehörigkeit und besitzt neuerdings auch einen Personalausweis im Kreditkartenformat, aber sie würde nie von sich sagen: Ich bin Ägypterin. Vielmehr ist es Zufall, daß der Sinai im Moment von Ägypten regiert wird. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Staatsmacht immer wieder gewechselt: die Türken, die Briten, die Israelis und nun die Ägypter. Salima aber fühlt sich nicht dem Staat zugehörig, sondern ihrem Stamm, dem Stamm der Mzena. Die Mzena betrachten sich als Abkömmlinge der Ur-Araber, der „eigentlichen“ Araber und einen ihrer Ur-Ahnen kennen auch wir: Noah und dessen Sohn Sem (daher unsere Bezeichnung „Semiten“). Es handelt sich also um dieselbe Abstammungslinie, aus der laut Überlieferung auch die Propheten Abraham, Jesus und Muhammad hervorgingen. Aus Südarabien kommend schwärmten die Araber im Laufe der Jahrhunderte Richtung Norden. Beduinen nennt man diejenigen, die sich vor allem in den trockenen Gegenden niederließen, wo man keine intensive Landwirtschaft mehr betreiben kann, es aber genügend Wüstenpflanzen und Wasservorkommen gibt , um mit einer nomadischen Lebensweise existieren zu können. Heute leben noch Beduinen im gesamten Mittleren Osten – von Nordafrika über die arabische Halbinsel bis hin zum Irak. Jeder Staat hat seine eigene Einstellung zu ihnen: in manchen Gegenden werden die Beduinen zwangsweise seßhaft gemacht und in Lohnarbeit gelockt, anderswo können sie in den Wüstengegenden noch weitgehend ihrer ursprünglichen Lebensweise nachgehen. Man muß aber ganz klar sehen, daß es keine „vom Westen unberührten“ Gebiete gibt und vor allem die jetzige Generation oft nichts Reizvolles mehr daran findet, in der Wüste zu leben.

Das Stammessystem – Aufgaben der Frauen und Männer
Warum ist das mit der Abstammung so wichtig? Abstammung und Verwandtschaft sind bei den Beduinen, wie auch in vielen anderen Stammesgesellschaften das vorherrschende Prinzip für die gesamte Organisation der Gesellschaft. Jedes Individuum erhält seinen Platz durch Geburt. Das ist zum Beispiel bedeutsam für die Fließrichtung von Autorität. Denn im Stamm gibt es keine zentrale Autorität, kein Machtzentrum wie den König oder Häuptling. Vielmehr haben Vater und Mutter absolute Autorität über ihre Kinder. Der ältere Bruder hat Autorität über den jüngeren usw. Von jedem Stammesmitglied wird erwartet, daß es den ihm zugewiesenen Platz einnimmt und seine Aufgaben erfüllt. Auch wird erwartet, daß man seine eigenen Bedürfnisse zugunsten der Familie und der Stammesgemeinschaft zurückstellt. Selbstverwirklichung und „Ego-trip“ sind also nicht gefragt. Wer sich fehl verhält, kommt vor den Familienrat oder einen Stammesrichter („Qadi“). Dort wird verhandelt, wie man entstandenen Schaden (zum Beispiel Verletzung der Ehre eines anderen) wiedergutmachen kann. Neben der Kontrolle und Beengung, die Stamm und Familie für den Einzelnen darstellen, geben sie aber auch Halt, Hilfe und Geborgenheit. Als Aufgabe der Frauen gilt, sich um das Haus, den Haushalt, die Kinder und das Vieh zu kümmern. Viele Kinder zu haben wird als großer Segen betrachtet und als Mutter erfährt man große Anerkennung von den anderen Stammesmitgliedern. Kinder können schon sehr früh im Haushalt mithelfen und das Vieh auf die Weide führen. Man schickt sie auch als Boten ins Dorf oder läßt sie kleine Einkäufe machen. Und wenn die Eltern alt und pflegebedürftig werden, sind es die eigenen Kinder, die sich um sie kümmern. Den Frauen wird große Wertschätzung entgegengebracht, wenn sie ihren Haushalt gut führen und ihre Kinder ordentlich erziehen. Diese Dinge sind viel wichtiger als z.B. ihr Aussehen oder ihr Bildungsstand. Die Häuser waren in den früheren Tagen Zelte. Die Frauen selbst haben die Zelte aus Ziegenhaar gewebt, daher nennt man sie Haarhaus. Heute leben nur noch wenige Familien in diesen Zelten. Mit dem Zelt war man mobil, denn die Beduinen lebten ursprünglich als Nomaden, das heißt, sie bauten ihre Häuser ab, wenn die Weide für das Vieh leer gefressen war und zogen mit allem, was sie hatten an einen anderen Ort. Diese Mobilität ist heute nicht mehr so wichtig, weil man nun andere Möglichkeiten hat, seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Die Ordnung in den modernen Häusern aus Stein und Beton ist aber dieselbe wie im Zelt und man findet sie im gesamten Orient: Es gibt einen Bereich für die Familie, also den Teil des Hauses, in dem die Frau sich mit den Kindern aufhält, dort ist auch die Küche. Das ist der private Bereich. Dort führt die Frau sozusagen Regiment. Und es gibt den Bereich, in dem sich nur Männer und (männliche) Gäste aufhalten – Beduinen haben fast immer Gäste zu Besuch. Dieser Bereich hat öffentlichen Charakter. Dort werden die Stammesangelegenheiten diskutiert. Das ist Aufgabe der Männer. Sie sind traditionellerweise auch zuständig für die Kommunikation mit fremden Leuten, mit Regierungsvertretern oder Ausländern. Frauen sollen den Kontakt zu den Fremden meiden. Aber nicht nur den Fremden, auch den männlichen Stammesmitgliedern gegenüber tragen sie einen Schleier, der Mund und Nase verhüllt. Den Schleier legen sie etwa ab dem vierzehnten Lebensjahr an, nicht ohne gewissen Stolz. Denn er ist ein Zeichen dafür, daß man erwachsen ist und ein Schamgefühl entwickelt hat. Jede Frau verziert ihren Schleier selbst nach eigenem Geschmack und je nach Mode mit Perlen; Pailletten und Straß. Die Schleiermode orientiert sich an Saudiarabien, woher die Beduinenstämme ja ursprünglich eingewandert sind. Einen ausgedienten Schleier kann man an Touristen verkaufen.

Eine weitere Aufgabe der Männer ist es, das Geld für den Unterhalt von Haus und Familie herbeizuschaffen. In früheren Tagen, also bis noch vor etwa 40 Jahren lebten die Beduinen vorwiegend von selbst angebautem Getreide (es genügte ein starker Regenguß pro Jahr), Obst, Gemüse und Datteln aus bewässerten Gärten in den Oasen, Ziegenmilch und Jagdwild, aber auch Fisch und Meeresfrüchten aus dem Roten Meer. Um zusätzliche Grundnahrungsmittel und Kleidung einkaufen zu können, stellten die Männer Holzkohle für die Wasserpfeifen der Ägypter her und reisten zu Fuß oder auf dem Kamel in den Nordsinai, um sie dort zu verkaufen.
Außerdem begleiteten sie gegen Lohn seit jeher Fremde, die in ihr Land kamen oder vermieteten ihnen Kamele. Welches aber sind heutzutage die Erwerbsmöglichkeiten für Beduinen im Sinai? Die meisten Männer verdienen ihr Geld im Bereich des Tourismus. Sie eröffnen Camps oder Cafeterias für Touristen, arbeiten als Jeep- oder Taxifahrer oder sie veranstalten Kameltouren in der Wüste. Dennoch reicht das Geld oft nicht aus. Hinzu kommt, daß der Touristenstrom großen Schwankungen unterliegt. Gab es einen Terroranschlag oder droht Kriegsgefahr im Mittleren Osten, haben viele Europäer Angst, in diese Region zu reisen. Um so wichtiger ist es, daß auch die Frauen Geld verdienen. In den alten Tagen besaßen die Frauen große Herden mit Ziegen und Schafen. Wenn ein Gebiet abgeweidet war, zog die ganze Familie oder Großfamilie weiter. Durch den Verkauf von Tieren konnten die Frauen eigenes Geld erwirtschaften. Auch verkauften sie gewebte Taschen oder Decken. 1967 kam der Sinai mit dem „Sechstagekrieg“ unter die Kontrolle Israels, des Nachbarlandes. Vorher hatten im Sinai fast ausschließlich Beduinen gelebt. Nun aber veränderte sich Vieles in ihrem Leben. Etliche Männer fanden jetzt Beschäftigung bei der Besatzungsmacht oder gingen (oft zu Fuß) bis zu den Plantagen und in die Städte Israels, um dort gegen Lohn zu arbeiten. Also waren viele Beduinenfrauen für lange Zeit alleine. Gleichzeitig kamen aber mehr und mehr Fremde in die Siedlungen und Häuser der Beduinen: Regierungsvertreter, Forscher, Siedler, Reisende. Was tun? Die Männer, die sich traditionellerweise im Gästeteil des Hauses zu den Fremden gesetzt hätten, waren fort, aber abweisen konnte man diese auch nicht. Also übernahmen die Frauen entgegen der Tradition kurzerhand die Bewirtung der Fremden, sprachen und verhandelten mit ihnen – und begannen, an ihnen Geld zu verdienen. Sie buken ihnen Brot und boten ihnen selbstgemachte Gegenstände oder wertvollen alten Schmuck zum Verkauf an.

Beduinenfrauen als Schmuckverkäuferinnen
Seit jener Zeit kamen immer mehr Touristen in den Sinai. Hotels wurden gebaut, Städte entstanden. Die Frauen begannen, mehr und mehr Perlenschmuck herzustellen. Heute besitzt fast jede Beduinenfrau ein Bündel mit Arm-, Hals- und Fußkettchen, Anhängern und Gürteln aus Perlen, gewebten und gestickten Täschchen usw. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Ware abzusetzen. Manche Frauen verkaufen den Schmuck dort, wo sie wohnen an vorbeikommende Touristen. Frauen, die an der Küste wohnen, gehen oft selbst zu den Hotels an den Strand und bieten den ausländischen Frauen ihren Schmuck direkt am Liegestuhl an. Wer aber eine solche Möglichkeit nicht hat, gibt sein Bündel einer Verwandten oder Freundin, die günstiger wohnt oder bessere Möglichkeiten hat, Touristen zu begegnen. Es gibt auch Männer, die Schmuck verkaufen. Eine besondere Rolle kommt aber dabei den Kindern zu. Denn gemäß der Tradition sollte eine Beduinenfrau bei ihrem Haus bleiben und sich um ihr Vieh kümmern. Auch soll sie gemäß der Tradition stammesfremde Menschen meiden. Das gilt vor allem an der Küste, wo die Ausländer halbnackt am Strand liegen. Also schicken die meisten Frauen ihre Kinder zum Verkaufen. Kinder (Buben und Mädchen) können sich nämlich in dieser Gesellschaft in allen Bereichen frei bewegen: bei den Männern, den Frauen und den Fremden. Sie sind sehr geschickt im Umgang mit den Touristen und erlernen schnell die Grundzüge der unterschiedlichen Sprachen. Oft gehen sie vormittags in die Schule und verkaufen nachmittags für einige Stunden Schmuck. Ein großer Vorteil des Schmuckverkaufes ist, daß die Frauen (und Mädchen) ihn in aller Ruhe zu Hause herstellen können. Zwischen den Haushaltspflichten oder während der Mittagsruhe, wenn man mit dem Vieh auf der Weide ist oder eine Nachbarin besucht: immer wieder gibt es die Gelegenheit, neuen Schmuck herzustellen. Die Frauen müssen also nicht aus dem Haus gehen oder ihre Aufgaben vernachlässigen, um Geld zu verdienen. In den letzten Jahren hat sich in verschiedenen Stämmen des Sinai ein Teil der Frauen zusammengeschlossen und kleine Genossenschaften gegründet. Mit ihrer Hilfe können die Beduinenfrauen nun Schmuck und Taschen auch über Läden im Sinai, in (Festland-) Ägypten und sogar im Ausland (Europa, Amerika, Australien) verkaufen. Auch in den umliegenden Ländern, in denen Beduinen leben, haben Frauen solche Vereinigungen ins Leben gerufen. Manche nutzen das Internet, um ihre Waren online anzubieten (s. Literaturliste). Dieser Bereich hat sich unabhängig von den Aktivitäten der Männer herausgebildet. Viele von ihnen sehen es nicht gerne, daß ihre Frauen und Töchter sich so weit in den öffentlichen Bereich hinaus begeben und regen Kontakt mit Fremden haben, andererseits sind aber viele Familien auf dieses Einkommen der Frauen angewiesen, weil die anderen Erwerbsmöglichkeiten nicht genug einbringen oder aber zu vielen Schwankungen unterliegen. Wenn die Beduinenfrauen im Sinai das verdiente Geld nicht benötigen, um den Haushalt zu versorgen, können sie sich eigene Wünsche und Träume erfüllen. Sie kaufen gerne neue Kleider, Parfum und Kosmetik oder aber sie sparen – sofern es in ihrem Dorf Elektrizität gibt – auf einen Kassettenrecorder, Fernseher oder eine Waschmaschine. Manche Frauen leisten sich von ihrem Geld eine Pilgerfahrt nach Mekka oder sie bauen sogar ein neues Haus. Oder sie investieren das Geld in den Kauf eines Kamels. Man kann es gegen einen festen Tagessatz für die von den Beduinenmännern oder ausländischen Veranstaltern organisierten Kameltouren vermieten. Während selbst hergestelltes, traditionelles Handwerk an andere verkauft wird, benutzen die Beduinen selbst jedoch mehr und mehr Billigprodukte, made in China. Kunststoffe ersetzen Naturmaterialien, sowohl bei der Kleidung als auch bei Hauseinrichtung und Haushaltsgegenständen. Bestünde von ausländischer Seite kein Interesse an den traditionellen Handarbeiten der Frauen, würde das Wissen um ihre Herstellung vermutlich mit der alten Generation völlig verschwinden.

Literatur – Websites www.lakiya.org Seite über das „Negev Bedouin Weaving“ Projekt israelischer Beduinen. Online kann man gewebte Produkte ansehen und bestellen. www.sinai-bedouin.com Website von Katrin Biallas mit weiteren Informationen und Literaturtipps zu der Kultur der Beduinen
Bücher zum Thema:

  • Alafenisch, Salim: Das versteinerte Zelt. Unionsverlag Zürich 1993
  • ders.: Das Kamel mit dem Nasenring. Unionsverlag Zürich 1990
  • Biallas, Katrin: „We live inside their Bible“ – Diskurse um die „Seßhaftmachung“ von Beduinen im heutigen Staat Israel. Magisterarbeit im Fach Ethnologie, unveröffentlicht. Tübingen 1997
  • Biasio, Elisabeth:  Beduinen im Negev – Vom Zelt ins Haus. Verlag Neue Züricher Zeitung 1998

 

Nachweis:  Biallas, Katrin Beduinenfrauen und Touristen auf der Halbinsel Sinai In: Claudia Kalka (Hg.) Weiblich, Männlich, Anders? Geschlechterbeziehungen im Kulturvergleich, Münster, Waxmann Verlag 2006
www.waxmann.com