Happy Birthday Katrina!

Hätte Winnetou ein Smartphone?

oder:

Was macht die Ethnologin an der Pforte?

oder:

Der Ziegelstein in meinem Kopf

Am 23.10.2018 werde ich 50 Jahre alt.

Ihr gratuliert mir zum Geburtstag.

Ihr wünscht mir alles Gute für die Zukunft, „für die nächsten 50 Jahre“.

Ihr sagt zu mir: Du hast es geschafft – Du bist immer noch unter uns Lebenden!

Und, yes – indeed! – bedenkt man einerseits, wie viele Millionen Jahre auf der Erde vergangen sind, ohne dass ich geboren wurde und bedenkt man andererseits, dass ich eines Tages wesentlich länger tot sein werde als ich je hätte am Leben sein können ist der reine Umstand, dass es mich überhaupt gibt (und euch auch!) und dass ich im Moment quietschlebendig umherspringe tatsächlich ein riesiges Glück.

Und, yes – indeed! – ich b i n glücklich, denn ich lebe gerne – ganz gemäß dem mittelalterlichen Spruch: „Ich leb und waiß nit wie lang / ich stirb und waiß nit wann / ich far und waiß nit wahin / mich wundert das ich so frölich bin.“ …

50 Jahre – bin ich jetzt schon alt oder noch jung? Fünfzig klingt nach Hälfte.

Die Frage ist nicht, wie lange man lebt, sondern: wie gut man lebt und wie man sich dabei fühlt.

Dennoch: die Haare sind längst grau, im Gesicht und am Hals bildet sich Fältchen um Fältchen, auf der Haut entstehen Flecken. Und als vor kurzem eine Frau in der Bahn aufstand, um mir mit den Worten „Ich bin ja noch jung“ ihren Sitzplatz zu überlassen, da wusste ich, was es geschlagen hat…

Netterweise verschonte mich das Leben mit Traumata, metertiefen Krisen, scheußlichen Krankheiten und Depression. Ich stürzte keinen Berg hinab und wurde nicht von einen Entführer misshandelt. Oft heißt es ja, nur wer durch schwere Krisen gegangen sei könne zu großen Erkenntnissen gelangen oder nur wer so etwas überwunden habe könne die Tiefen von Leben und Tod erahnen.

Aus irgendeinem Grund wurde ich nicht vom Pech verfolgt – wie so viele Menschen um mich herum -, sondern vom Glück. Aber es schien mir immer, als könne ich jene Tiefen trotzdem erahnen.

Warum war ich nicht auf Haiti in Cité Soleil zur Welt gekommen oder in Ghana in Agbogbloshie? Warum hatte ausgerechnet ich eine unbeschwerte Kindheit in einem freien, reichen Land und bei verantwortungsvollen, liebenden Eltern?

Noch halb in den Windeln war ich schon ein Philosoph und konnte gar nicht anders, als unentwegt über alles zu sinnieren.

Da war ich also: ein menschliches Wesen, das auf der Erde gelandet war.

Wie komme ich überhaupt hierher? Aus meiner Mutter. Ja, schon! Aber wo kam sie her? Aus ihrer eigenen Mutter, meiner Oma. Ja: aber die kam wiederum aus ihrer Mutter und so weiter, eine ewige Kette … wer war denn dann die Ur-Mutter und woher kam sie??

Wer bringt den Amseln das Singen bei?

Woher weiß eine Ameise jederzeit, was sie zu tun hat?

Wie kann aus einem winzigen Samen ein meterhoher Baum werden?

Man sagte mir: Gott hat die ganze Welt erschaffen und alles, was auf ihr ist. Und dann hat er aus Liebe seinen Sohn zu den Menschen geschickt, um ihnen zu sagen: Ihr Menschen, ihr sollt einander lieben, egal ob Freund oder Feind! Ihr sollt einander helfen!

Das sagte man zu mir: Sei lieb zu den anderen Kindern und zu allen Menschen. Stiehl nicht, sei nicht neidisch, sei gerecht! Der wahre Reichtum liegt nicht im Geldbeutel, sondern in deinem Herzen, wenn du das willst. Und auch zu den Tieren sollst du lieb sein und ihnen kein Leid zufügen. Vor jedem Wesen sollte ich Achtung haben. Man lehrte mich, nichts fortzuwerfen: Kein Bonbonpapier auf den Boden, kein Brot in den Müll.

Aber – o weh! Als ich größer wurde sah ich, dass die Menschen oft weder zu einander noch zu den Tieren besonders liebevoll waren.

Wie ich mich in der Welt so umsah kam es mir vor, als gäb’ es mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit, viel häufiger Neid und Gier als den Willen zum Teilen. Offensichtlich redeten die Propheten und die weisen Wanderprediger sich ganz vergebens den Mund fusselig.

Am Schlimmsten war es mit der Verlogenheit. So viele Verantwortliche, Prominente, Politiker behaupteten, etwas Gutes zu wollen, aber ihr Handeln offenbarte, dass sie Lügner waren. Selbst in der Kirche.

Oder die Werbung. In der Stadt, in Zeitungen, im Fernsehen, überall wurde man von ihr verfolgt: Du wirst glücklich! Du wirst schön! Alle werden dich beneiden, hieß es da. Die schönsten Menschen, makellose Wesen strahlten einen an und hatten dabei irgendein Produkt in der Hand. Kauf mich, kauf mich, kauf mich, raunte es von allen Seiten und alle behaupteten: ich geb dir das Beste.

In der Schule erklärte man uns, hierbei ging’s ums Verführen und die Bilder und Botschaften drängen bis in unser Unterbewusstsein. Dort würden sie an unsere tiefsten Sehnsüchte andocken und versprechen, uns das wiederzugeben, was wir längst verloren hatten.

Mich beschlich stets das Gefühl, dass wir das allermeiste von dem, was da überall beworben und verkauft wurde eigentlich gar nicht brauchten. Wenn ich in ein Kaufhaus ging fühlte ich mich wie erschlagen.

Ich war sehr dankbar darum, dass ich in einem kleinen Dorf lebte, in einem großen Haus mit Garten. Am Rande eine riesigen Waldes.

In der Schule liebte ich den Erdkundeunterricht, weil ich Sehnsucht danach hatte, fremde Länder und Menschen kennenzulernen.

Ziemlich schockierend fand ich den Geschichtsunterricht. Ständig gab es irgendwelche mächtigen und meist grausamen Herrscher, die ihre Untertanen ausbeuteten und fremde Länder überfielen. Ein Krieg reihte sich an den andern, ein Reich löste das nächste ab. Und ständig mussten irgendwelche arme Kerle aufs Schlachtfeld gehen.

Wir lernten Krieg um Krieg, aber das war alles weit weg.

Ich war unendlich froh, in einem friedlichen Land zu leben. Aber das war ja noch nicht lange so – mein Opa war im Krieg „gefallen“ (was für ein harmloses Wort…).

In meinem kindlichen und jugendlichen Weltbild war ich überzeugt (und bin es übrigens heute noch): jeder Krieg ist von Grund auf schlecht und noch dazu völlig überflüssig.

Ich träumte davon und träume immer noch davon, dass die Menschen eines Tages friedlich miteinander auf der Erde leben. Wie eine große Familie. Wenn es Streit gibt löst man ihn schnell und gewaltfrei. Ich träumte davon, dass die Menschheit eines Tages auf die Jahrtausende der Kriege zurückblickt wie auf Jugendsünden und lächelnd den Kopf darüber schüttelt…

Ich bin ein Kind des Kalten Krieges, wurde mitten ins atomare Wettrüsten hineingeboren. Franz Alt hatte uns damals ausgerechnet, dass für jeden Menschen auf der Erde mehr Waffen als Nahrungsmittel zur Verfügung stehen.

Apropos: Ich erinnere mich an den Schock, als ich davon hörte, dass es Menschen gibt, die nicht genügend zu Essen haben. Ich konnte es nicht fassen und konnte es mir nicht vorstellen.

Die Hungernden blieben immer in meinem Kopf und ich fand: Wenn nur ein einziger Mensch auf der Erde verhungern muss, ist das schon einer zu viel. Für mich war völlig klar: das ist das dringendste Problem auf dieser Welt!

Aber es gab ja noch so viele andere schreckliche Dinge. Als ich aufwuchs sprach man viel von der Umweltzerstörung. Davon, dass Meere und Flüsse vergiftet waren, dass Chemikalien ganze Landschaften verseuchten.

Ich las davon, wie der weiße Mann aufgebrochen war, die Meere und Länder der Erde zu durchpflügen. Mit einem nicht zu stillenden Hunger ging er bis an die Enden der Kontinente und darüber hinaus. Er ließ sich in fremden Gegenden nieder und besiedelte sie oder er holte aus fernen Ländern das allerbeste für sich nach Hause. Dass nebenbei ganze Völker, ganze Tierarten ausgerottet wurden war ihm egal.

Ich hatte doch gelernt, dass die Menschen einander lieben und gerecht miteinander sein sollten. Papperlapapp! Es ging doch immer nur drum, dem andern möglichst viel wegzunehmen! Und die Reichen konnten den Hals nie voll bekommen.

In unserem System zählte nur Geld.

Ich las aber auch viel über all die wunderbaren Entdeckungen und Erfindungen der Menschen und wie die Völker sich darüber austauschten und voneinander und miteinander lernten. Wir könnten nicht so ein bequemes Leben führen und so viele Krankheiten heilen, wenn nicht Jahrtausende lang kluge Menschen unermüdlich geforscht und experimentiert hätten.

In meinem Kopf pochte schließlich irgendwann die Frage:

Warum konnten die Menschen nicht einfach friedlich auf ihrem schönen Planeten zusammen leben, sich mit dem Nötigsten versorgen und das Leben genießen?

Ein einsamer kleiner Planet schwebte da durch die unermesslichen Weiten eines unfassbaren Universums. Weder zu fern noch zu nah an der nächsten Sonne, so dass sich darauf Millionen Arten von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen bilden konnten. Allein der Gedanke, dass ausgerechnet ich Teil dieses Ganzen geworden war, dass ich existierte und dies alles sehen und erleben konnte machte mich ganz schwindelig.

Aber viel schwindeliger wurde mir, wenn ich sah, wie all das, was in Millionen Jahren entstanden war von uns womöglich in wenigen Jahrzehnten komplett vernichtet werden würde.

Und wir waren schon dabei. Es war keine düstere Vision oder eine Möglichkeit, sondern Realität. In der Schule hatte man uns eines Tages in der Turnhalle auf großer Leinwand einen Film gezeigt, in dem wir die Baumriesen der tropischen Wälder fallen sahen. Einer nach dem andern krachte zu Boden, damit Felder angelegt werden konnten, auf denen Rinder weiden würden. Nach der Schule konnten wir genau diese Rinder als Burger im Schnellrestaurant essen.

Für mich war völlig klar, dass ich das nie tun würde. Heute heißt es, Mac Donald’s schlachte einheimische Rinder, aber was, wenn diese mit Soja gefüttert werden, wofür wieder Regenwald abgeholzt wird? (Ich bin so oder so Vegetarier geworden, weil ich Fleisch nie sonderlich mochte.)

Seit damals ging das Abholzen in einem fort weiter, Tag für Tag, bis heute und es ist kein Ende in Sicht. (Damals sprach man noch nicht vom Klimawandel).

Gleichzeitig war die Welt, war das Leben so wunderschön.

Das Zusammensein mit Freunden. Gutes Essen… durch den Wald streifen… mit einer Gitarre am Lagerfeuer… Geschichten… All die Musik! Vivaldis Vier Jahreszeiten… die g-moll Sinfonie von Mozart… Klavier spielen… im Schnee herumtollen… mit einem Baby spielen … mit einem Kätzchen schmusen… Bücher… Verliebtsein.

Am Schreibtisch sitzend blickte ich als Jugendliche oft in den Garten hinaus, wo alles so schien, als sei die Welt in Ordnung. Ich ließ meinen Blick über die Büsche und Blumen streifen, wo Bienen und Vögel unterwegs waren, zu den hohen Bäumen des Waldes und hinauf zu den Wolken, die darüber hinwegzogen. Der Anblick machte mich glücklich. Gleichzeitig überkam mich bodenlosen Traurigkeit, wenn ich mir vorstellte, dass die Menschen dabei waren, dies alles zu zerstören. Wie in einem Film sah ich vor meinem geistigen Auge den Fluss der Erdgeschichte an mir vorüberziehen, wie alles sich über Millionen von Jahren herausgebildet hatte, wie so vieles entstehen und wieder vergehen musste, damit wir dort waren, wo wir waren und weiter, an uns vorbei, der Fluss der Zeit, über uns hinweg, so dass eines Tages nichts mehr von uns übrig sein würde. Wenn ich dazu die Musik von Jean Michel Jarres „Equinoxe“ laufen ließ wurde es bleischwer in mir und es war, als zerspringe mir das Herz.

Warum lebe ich in einer so verrückten Welt, fragte ich mich.

Da läuft doch irgendetwas ganz grundsätzlich falsch. Wir haben die Dinge der Welt in Waren verwandelt und jetzt ist der große Ausverkauf.

Es ist doch falsch, immer weiter aufzurüsten. Es ist doch falsch, immer mehr Wälder abzuholzen. Es ist doch ganz und gar falsch, alles in Geld zu messen. Es ist falsch, dass Millionen von Menschen nichts zu essen haben. Dass einige wenige viele andere ausbeuteten und das Beste aus anderen Ländern heraustragen, um es für sich selbst zu verpulvern. Wir im Westen hatten doch längst alles, wovon man nur träumen konnte.

So gab es in meiner Jugend eine lange Phase, in der ich oft mit hängendem Kopf umher lief – es machte mich alles so traurig – und dann kam auch noch Tschernobyl!
Jemand diagnostizierte mir „Weltschmerz“. Aber mir schien, da gab es einen grundlegenden Unterschied. Das war kein Schmerz, wie ihn schon viele vor mir darüber empfunden hatten, dass wir alle sterblich sind. Es war auch kein Kopfschütteln über die Schlechtigkeit des Menschen. Nein, das saß viel tiefer. Es war elementare Fassungslosigkeit. Es ging hier ums große Ganze. Wir waren drauf und dran, das ganze Leben auf der Erde zu zerstören.
Nur weil Vieles davon weit entfernt stattfand und wir nicht direkt betroffen waren hieß das doch nicht, dass es uns egal sein konnte.

Was sollte ich nur tun? Wie konnte ich damit leben?
Konnte man mit den Schultern zucken und sagen: „Schade eigentlich“?

Manche sagten zu mir: es ist doch alles nicht so schlimm.
Jemand lachte über mich und sagte:
„Glaubst du denn, es war auf der Welt jemals besser?
Schon die alten Römer haben zu viel Wald abgeholzt und zur Zeit der alten Sumerer haben die Menschen auch schon Artensterben verursacht.
Diktatoren, Kriege, Sklavenhaltung und Kolonisierung gab es immer und wird es immer geben.
Es gab immer Eliten und Reiche, die sich an die Mächtigen klotzten und sich perfide Mittel und Wege ausdachten, den Rest der Welt für sich schuften zu lassen.
Der Mensch ist eben so.“

In dieser verzweifelten Lage fand mich Winnetou.
Winnetou kam aus einer Welt, in der man in Harmonie mit dem Kosmos und der natürlichen Umwelt lebte und sich demütig in das große Ganze einfügte. Wo er herkam vergifteten die Menschen ihre Flüsse nicht, sondern brachten dem Wasser, den Tieren, den Pflanzen Verehrung und Dankbarkeit entgegen. Sie nahmen immer nur soviel, wie sie brauchten. Sie hatten Rituale und wiesen jedem Menschen seinen Platz in der Gemeinschaft zu.
Ach, dachte ich sehnsüchtig, warum bin ich nicht als Indianer auf die Welt gekommen.
Im Geiste ritt ich auf einem gescheckten Pferd durch die Prärie, lernte, die Spuren der Tiere zu lesen, Tipis zu errichten, Federschmuck herzustellen – ein Leben in der Natur.
Wieder aufgewacht musste ich still auf einem Stuhl sitzen und Matheformeln, chemische Verbindungen und Latein lernen.

Die lebten doch richtig und wir lebten falsch!
Wieso erkannten das die Leute nicht?
Mit meiner Freundin Stephanie saß ich im Wald am Ufer eines Tümpels und diskutierte diese Angelegenheiten. Wir waren uns einig: Man musste ein Buch schreiben, in dem das alles drin stand. Ein Buch, das die Welt verändern würde. Jawoll. Wir Kinder mussten den Erwachsenen die Wahrheit beibringen!
Außerdem fassten wir den Entschluss: Wenn wir groß sind gehen wir zu den Indianern.

K O Y A A N I S Q A T S I

Ich wuchs heran.
Während die andern Mädchen in meiner Umgebung das Shoppen entdeckten und begannen, sich für Mode, Schminken und Discos zu interessieren ging ich lieber im Wald spazieren. Wenn ich mal in die Disco mitging verwickelte ich die Leute in philosophische Diskurse.

Ich liebte es, in der Stadt bei den „Pennern“ und Punkern zu sitzen, verbrachte mit ihnen so manchen Nachmittag bei einem Kasten Bier auf den Spielplätzen der Stadt. Ich fühlte mich dabei eher als Zuschauer, aber ich mochte an ihnen, dass sie gegen die Zeitdiebe immun waren, die ich von Momo kannte. Dass ich dann abends zur katholischen Jugendgruppe ging war für mich kein Widerspruch. Beides steckte voller Leben.

Wenn ich etwas aus der Stadt mitbrachte, waren es meistens Bücher.

Jetzt las ich Fachliteratur über die Indianer und andere „Naturvölker“. Diese Völker betrieben nicht einen solchen Raubbau an der Natur wie wir. Aber war das, weil sie die besseren Menschen waren? Oder weil sie wussten, dass man auf Dauer nur mit und in der Natur leben kann und nicht gegen oder ohne sie? Oder war es nur, weil ihnen einfach die technischen Mittel dazu fehlten?

Die kindliche Verklärung indianischer Welten war schon einer gewissen Ernüchterung gewichen. Es war nicht so dass ich mein eigenes Leben gerne gegen eines bei irgendeinem afrikanischen Stamm hätte tauschen wollen. Ich las von gruseligen Ritualen, Körperverstümmelungen, Zwangsheiraten, brutalen Opferungen. Nein, das vermisste ich nun wirklich nicht. Außerdem gab es dort auch Kriege. Aber was mich nach wie vor faszinierte war, wie Menschen ohne jedes moderne Hilfsmittel in der Natur leben konnten. Solche Menschen wollte ich unbedingt persönlich kennenlernen.

Irgendwo da draußen wartete Winnetou auf mich. Winnetou würde ein reiner Mensch sein ohne Makel und ohne Gier. Er würde sich an den Werken der Zerstörung nicht beteiligen und die Menschen immer warnen, den richtigen Pfad nicht zu verlassen.

Viel viel später würde ich den Fotografen Sebastiao Salgado kennenlernen (nicht persönlich, aber in seinen Zeugnissen), der in die tiefsten Abgründe menschenmöglichen und menschenverursachten Leids geblickt und in seinen Fotografien davon berichtet hat. Er wurde krank davon und machte sich auf, die Schönheit der Erde zu dokumentieren und menschliche Gruppen zu finden, die in Frieden mit der Natur lebten. Seine Hommage an die Erde („Genesis“) kann ich nur jedem ans Herz legen.

Salgado Nenzen

Wim Wenders machte über ihn den Film „Salz der Erde“.

Warum konnten die Menschen nicht einfach friedlich auf ihrem schönen Planeten zusammen leben, sich mit dem Nötigsten versorgen und das Leben genießen?

Nach dem Abitur lebte ich ein Jahr lang in Jerusalem. Als ich zurückkehrte begann ich – was lag näher? – mit dem Studium der Ethnologie (Völkerkunde) in München. Weil ich in Israel hebräisch und arabisch gelernt hatte studierte ich dazu Judaistik und Islamwissenschaft.

Mit mir studierte Baruch, ein Israeli. Er führte zusammen mit Beduinen Gruppen durch die Wüste Sinai. Er kannte einen Sliman. Ich bat ihn, mich mitzunehmen.

So kam es, dass ich nicht zu den Indianern ging, sondern zu den Wüstenarabern.

Ich reiste mit Baruch in den Sinai und er führte mich in Slimans Familie ein. Damals saßen sie in einem winzigen Steinhäuschen in einer Oase: Ida und sechs ihrer acht Kinder. Es war Dattelzeit.

Ida, „Um Mohammad“: Eine einfache Beduinenfrau. Zehn Geburten, acht überlebende Kinder. (Siehe Katrina – „Wie ich Katrina wurde„)

Die Kinder und später die Enkelkinder waren ihr ganzer Reichtum. Ihr tiefer Glaube war ihr Trost in allen Lebenslagen.

Aufgewachsen ist sie noch in den alten Tagen. Es gab in der Wüste kaum Pisten, keine Straßen, keine Autos. Vor Flugzeugen hatten sie als Kinder Angst und versteckten sich. Auch Männer waren für die Mädchen etwas Fremdartiges. Ihr Leben war Brot backen, kochen, spinnen, weben, Tee zubereiten, Ziegen und Schafe hüten, melken, Butter stoßen. Sie wohnten in einem Zelt aus Ziegenhaar oder im Schatten eines Felsen. Eines Tages hieß es: du heiratest jetzt und schwupp war’s passiert. Ein entfernter Cousin.

Sie ist eine herzensgute, gottgläubige Frau, arm. Das wenige, das sie hat teilt sie gerne. „Es geht uns gut. es ist genug. Es ist alles da – al-hamudlillah! Gott sei Lob und Dank!“ pflegt sie zu sagen.  Wenn ich sie fragte: soll ich aus Deutschland etwas mitbringen? Möchtest du etwas? antwortete sie stets: „Nur dein Wohlergehen!“

1993 lebte ich zum ersten Mal bei ihr. Und seither jedes Jahr für einige Wochen.

Ich lernte den arabischen Dialekt dieses Stammes und verbrachte große Teile meiner Semesterferien in der Wüste. Ida Um Mohammad wurde zu meiner zweiten Mutter. Sliman Abu Hmed wurde nicht nur zu meinem zweiten Vater, er wurde auch mein Winnetou…

Papa war ein Beduine vom alten Schlag, in der Wüste groß geworden. Er heiratete eine zweite Frau. Diese besaß ein Haus in der Stadt, deshalb verbrachte er über einige Jahre viel Zeit dort. Aber er hasste das Leben in der Stadt, er konnte damit nichts anfangen. So viele Leute so eng aufeinander, der Lärm, der Dreck. Als sein Bart graue Haare bekam packte er alles zusammen und ging mit der ganzen Zweitfamilie zurück in die Wüste. Als der Bart daraufhin wieder schwarz wurde wusste er, dass er richtig gehandelt hatte.

Papa Sliman zeigte mir seine Heimat und erklärte mir, wie die Menschen in der Wüste überleben konnten. Er erklärte, wie das Zusammenleben im Stamm funktioniert und was es bedeutet, ein Beduine zu sein. Von den Frauen und Mädchen ließ ich mir Hirtenmädchengeschichten erzählen, draußen in der badyah, wo die Schafe und Zicklein noch frei umhersprangen und glückliche Milch gaben.

Sicher gab es bei den Menschen in der Wüste auch viel Ernüchterndes und Etliches, was ich persönlich strikt ablehnte, aber doch hatte ich Vieles von dem gefunden, was ich als Kind gesucht hatte.

Sinai-Syndrom

Winnetou würde heute in einem Reservat leben. Er würde nicht aufhören, dem weißen Mann zu sagen, wie verrückt er ist. Winnetou hätte ein Smartphone. Das Phone würde ihn mit der ganzen Welt verbinden und mit all den andern, die guten Willens sind und die wollen, dass unser Planet auch für unsere Kinder, Enkel, Urenkel, Ururenkel, …. bewohnbar bleibt. (Und es wäre natürlich ein „faires“ Smartphone ohne Rohstoffe, die von kleinen Kindern im Kongo mit bloßer Hand aus der Erde gekratzt werden!)

Als ich mein Studium als Magistra Artium beendet hatte, hatte ich sofort den Ehrgeiz, finanziell unabhängig zu sein. Obwohl ich noch nicht wusste wie bat ich meinen (echten, deutschen) Vater, den Hahn abzudrehen.

Da überschlugen sich die Ereignisse regelrecht und die Dinge flogen mir nur so entgegen, ohne dass ich je eine Bewerbung verschickt hätte. Eine Mitstudentin hatte eine Stelle an der Pforte der Universitätsklinik und wollte sich nach etwas anderem umsehen. Ich nahm ihren Platz ein und landete am Empfang und in der Telefonie. Eine Teilzeitstelle und ein Lohn, mit dem ich die Hälfte meiner Lebenskosten bestreiten konnte.

Ich konnte blockweise arbeiten, so dass weiterhin genug Zeit für den Sinai blieb.

Papa Sliman sagte zu mir: Jetzt, wo du mit deinem Studium fertig bist könntest du doch Leute von zu Hause mitbringen, Reisegruppen. Dann ziehen wir mit ihnen durch die Wüste. Die Leute sind glücklich, wenn sie so etwas erleben können und wir Beduinen können was damit verdienen. Und du auch. Du kannst arabisch und kennst unsere Kultur, du kannst zwischen uns vermitteln.

Ich wusste nicht, wie ich das machen sollte, aber die Reisegäste kamen ganz von selber. Eins ergab sich aus dem andern.

Zur selben Zeit erreichte mich ein Hilferuf aus dem Stuttgarter Völkerkundemuseum: man suchte dringend nach Ethnologen für die Orientabteilung: Führungen, Workshops, Fortbildungen. Also kam ich da auch noch als freie Mitarbeiterin unter.

Eine ältere Dame in Tübingen, der ich im Haushalt zur Hand ging hatte mir vorgeschlagen, in ihrer Gemeinde von meinen Wüstenerlebnissen zu berichten. Auch hier kam eins zum andern und nach diesem ersten Lichtbilder-Vortrag hielt ich noch hundert weitere und kam dabei in die entlegensten Winkel der Republik, zu renommierten Institutionen, in Bildungswerke, Universitäten und zum Lions Club.

Irgendwann kam jemand zu mir und sagte: lass uns ein Buch zusammen machen. Und so flog mir das auch noch in den Schoß. (Brachte allerdings keine Einkunft, aber darum ging’s auch nicht.)

Mzayna

Natürlich hätte ich (mühsam) nach einer soliden Vollzeitstelle für Ethnologen oder Islamkundler suchen können, aber alles, was ich tat beschäftigte mich vollauf. Ich führte ein abwechslungsreiches Leben, war immer zufrieden und hatte genug Geld zum Leben.

Meinen Traummann hatte ich inzwischen auch gefunden.

Tübingen mussten wir verlassen, weil Wohnraum zu teuer geworden war.

Und so kam es, dass wir mitten in einem kleinen schwäbischen Dorf am Rande des Schwarzwalds landeten. Seine Einwohnerschaft war ein vergnügtes Völkchen, das uns mit offenen Armen aufnahm.

Ich unternahm redliche Bemühungen, mich gut zu integrieren, trat in den Chor ein, beteiligte mich an der Fasnet, erstellte Soziogramme und Verwandtschaftsbäumchen und las mich in die Geschichte des Fleckens ein. Ein fleißiger Mann hatte sein Leben lang unermüdlich alles darüber gesammelt und in drei dicken Büchern handschriftlich niedergeschrieben.

Meinen Tübinger Arbeitsplatz an der Pforte konnte ich von dort aus gut erreichen (ohne Auto). Meine Teilzeitstelle hatte ich die ganze Zeit über behalten und war daher schon auf die höchste Lohnstufe geklettert.

Womöglich hätte es Gelegenheiten gegeben, mich im Bereich Integration von Migranten oder bei der Bekämpfung des Salafismus einzubringen, aber es war wie verhext: jedesmal, wenn ich mich umtun wollte kam ein Hilferuf aus dem privaten Umfeld dazwischen (ich bin kinderlose mehrfache Tante) oder es nahm mich ehrenamtliche Arbeit derart in Beschlag, dass an nichts anderes mehr zu denken war. Ich konnte froh sein, dass mein Lebensunterhalt auf sicheren Füßen stand und ich mich dabei um nichts kümmern musste.

Außerdem musste ich ja gemeinsam mit Gleichgesinnten die Welt retten und das ist ein mühsames Unterfangen – wie hätte ich mich da je nach einer anderen Arbeit umschauen können? Nein, das ging ganz und gar nicht und so blieb ich Pförtnerin und Beduinenmädle.

Ich richtete mich an der Pforte ein. Es war ein herrlicher Ort, um Leute zu beobachten, mit Hinz und Kunz zu plaudern und über Leben und Tod zu philosophieren. Die Klinik bot einen Querschnitt durch die gesamte Gesellschaft: Ärzte, Professoren, Pfleger, Studenten, Verwaltungswirte, Büroarbeiter, Reinigungskräfte, Handwerker, IT-ler: alle arbeiteten in einem fast perfekten System zusammen, jeder mit einer Personalnummer versehen und jeder einem bestimmten Bereich und einer Telefonnummer zugeordnet. Die Patienten: Aus allen Schichten: steinreich die einen, bettelarm andere. Von der Großfamilie umgeben die einen, einsam und verlassen andere; manche so vereinzelt, dass es keinen Menschen auf der Welt gab, der ihnen von zu Hause ein frisches T-Shirt hätte bringen können.

Kinder, die schon mit zwei Jahren Krebs hatten.

Herzzerfetzende Geschichten, Bangen um einen Sterbenskranken und immer wieder bittere Tränen.

Ach, ich kann nicht um all eure Toten weinen, aber ich kann euch zuhören, an eurem Schicksal teilnehmen, kann versuchen, etwas Trost zu spenden.

Meine Hauptaufgabe war es, jede Frage entweder selber zu beantworten oder denjenigen zu finden, der sie beantworten konnte. Das wurde bisweilen recht kniffelig, wenn nicht abenteuerlich.

An den Wochenenden hatte ich oft Zeit, neben den Patientenauskünften etwas zu lesen oder zu recherchieren. Jetzt konnte ich in Ruhe versuchen, die Welt endgültig zu verstehen.

Ich klickte mich durch’s Netz, durchpflügte Bücher und Aufsätze. (Natürlich nicht nur an der Pforte, sondern auch zu Hause).

Die Menschen verstanden die einfachsten Dinge nicht mehr und es gab so viele Verwechslungen.

Viele Leute hatten keine Ahnung, was „Natur“ bedeutet. Dass die Natur nicht irgendwas Nettes da draußen ist oder schöne Blumen oder ein süßes Tierbaby. Natur ist: Ursache und Wirkung. Bedürfnis und Befriedigung des Bedürfnisses. Alles hängt mit allem zusammen. Unser Körper ist Natur: wenn ich atme, wenn ich esse, wenn ich verdaue, wenn ich krank bin und wieder gesund werde, das alles ist „Natur“. Die Naturgesetze stehen über allen anderen Gesetzen und gelten von sich aus. Kein Mensch kann sie ändern oder gar brechen.

Die Börse dagegen ist keine Natur und die Regeln der Finanzwelt sind keine Naturgesetze. Es sind Ideen in unseren Köpfen. Es sind Zahlen, an die man glauben muss.

Verwechslungen: Ist es richtig, dass wir immer tollere Kreuzfahrtschiffe brauchen?

Nein, falsch. Saubere Meere sind viel wichtiger.

Ist es richtig, dass immer mehr Menschen mit SUVs (große, zugkräftige, massige Autos) durch die Städte fahren sollten?

Nein, wichtiger wäre weniger Verkehr auf den Straßen und wichtiger wären kleine, sparsame Autos.

Der Kern des Übels schien mir in der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu liegen. Dass man alles in verkäufliche Waren verwandelt. Dass man billiger als der andere sein muss. Das man neue Märkte erschließen muss.

Warum sollte die Wirtschaft immer weiter wachsen, was sollte gut daran sein und überhaupt: wo sollte das eigentlich alles hinwachsen? Warum war genug nicht genug?

Zwischen Wohlstand, Reichtum und Glücklichsein gibt es keinen Zusammenhang. Am glücklichsten sind die Menschen, die gerade genug haben. In Heinrich Bölls Geschichte mit dem dösenden Fischer kommt am Ende heraus, dass er genau das tun könnte: dösen, wenn er zwei statt einem Boot hätte…ein größeres…wenn er öfters hinausführe…wenn er immer mehr Fische finge und sie schon auf seinem Tanker verarbeiten ließe…Er ist ein zufriedener Mensch ganz ohne Wachstum.

Der Neoliberalismus. Er war unser Verderben.

Wie konnte dieses System gut sein? Genau dieses Denken und Handeln war es doch, welches die Plünderung des gesamten Planeten mehr und mehr beschleunigte.

Es würde irgendwann all das, was sich nicht nachbilden kann zu Ende gehen. Auch die Rolle des Zinses und Zinseszinses versuchte ich zu verstehen.

Steve Cutts: Erde zu Geld

Wie ich die Sache auch drehte und wendete: „Wirtschaftswachstum“ ergab auf Dauer keinen Sinn. Es ergab bestenfalls Sinn für einige Wenige, die damit Reichtum anhäufen und ins Unendliche vermehren konnten. Sie waren tatsächlich diejenigen, die das System verbittert verteidigten. Dazu noch die Finanzmärkte. Goldman Sachs, Black Rock, …

Traditionelle Systeme funktionierten in Kreisläufen und sie funktionierten Jahrtausende lang. Unser System dagegen machte in 200 Jahren kaputt, was in Millionen Jahren gewachsen war. In den Meeren schwamm inzwischen mehr Plastik als Fisch.

Wenn ich mir vor Augen hielt, dass unser Wirtschaftssystem „schlecht“ und „falsch“ ist ergab sich daraus natürlich die Frage: Warum leben dann alle danach? Warum hatte man die ganze Welt in einen einzigen großen Supermarkt verwandelt?

Es wäre schon schlimm genug gewesen, wenn wir für uns selber den Kapitalismus praktizierten, aber wir stülpten ihn ja über alles andere drüber. Wir ließen niemanden auf dieser weiten Erde aus unserm System draußen, saugten alle mit hinein und zwangen sie dazu, mitzumachen – als Gewinner, oder…die meisten…: als Verlierer.

1972 hatte der Club of Rome eindringlich gewarnt,:

Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.

Nichts änderte sich.

Der Mensch erkannte, dass er Mist baute, aber er tat nichts dagegen.

1992 ging eine Warnung in die Weltöffentlichkeit, die 1700 Wissenschaftler unterschrieben hatten. Sie forderten: Treibhausgase beschränken, fossile Brennstoffe ausschleichen, Entwaldung stoppen, Kollaps der Biodiversität aufhalten.

25 Jahre lang beobachteten und prüften Experten, ob sich irgendetwas besserte. Nein. Alle negativen Tendenzen hatten sich verstärkt – außer der Sache mit dem Ozon (die hatten wir so halbwegs in den Griff bekommen).

2017 ging daher wieder eine eindringliche Warnung in die Weltöffentlichkeit, diesesmal unterschrieben von 15.364 Wissenschaftlern aus 184 Ländern.

Wie MÜSSEN unseren Lebensstil ändern, sagen sie. Es ist bald zu spät zum Handeln.

„Die Erde ist unser einziges Haus.“

http://scientistswarning.forestry.oregonstate.edu

Warnung der Wissenschaftler (PDF)

Just zwei Wochen vor meinem 50. Geburtstag erschien die Schlagzeile:

„Jetzt handeln. Es ist fast schon zu spät.“

Weltklimarat: „Erforderlich sei ein zügiger Umbau der gesamten Weltwirtschaft.“

Weltklimarat: Es gibt keinen Planet B

Das Dumme war nur, dass solche Meldungen einen Tag lang in den Schlagzeilen waren und dann wieder zwischen Berichten zum Fußball und Parteiengeränkel verschwanden.

Wer sollte so eine Warnung entgegennehmen? Wer sollte anfangen, was zu tun? Die Politiker?

Nein. Es war offensichtlich, dass von der „Politik“ nichts zu erwarten war. Politiker in hohen Positionen hofierten die Eliten und umgekehrt. Gemeinsam verschleierten sie Tatsachen nach allen Regeln der Kunst und sorgten sich eher um ihre Positionen und ihre eigenen Familien als um die Menschen, für die sie verantwortlich waren.

Im Regenwaldgürtel verschenkten Politiker weltweit gigantische Waldstücke an ihre Verwandten und Kumpel. In ihren Augen waren Indianer vergleichbar mit Tieren und weder diese noch jene noch der Wald an sich überhaupt etwas wert. Hunderttausende von Kleinbauern waren von dort vertrieben worden.

In Ländern wie Paraguay besaß ein Prozent der Einwohner dreiviertel des Landes.

Überall das gleiche Bild: Einige wenige dürfen bestimmen, wohin es geht und wer das Beste bekommt und der Urwald wird täglich, stündlich kleiner.

Aber was war mit uns selber, mit uns Konsumenten?

Man hatte das Gefühl, dass man selber überhaupt nichts bewirken kann.

Man las tagtäglich von all diesen Dingen, aber man wusste nicht, wohin damit.

Wir zucken mit den Schultern.

Würde es denn wirklich etwas nützen, wenn ich weniger heize und weniger Auto fahre? Wenn ich nur noch bio, fair und regional einkaufe und auf Palmöl verzichte?

Wir können eh nichts tun…

Viele sagen: Ich ertrage das alles nicht. Ich muss mich davor schützen. Sie schauen weg und lesen solche Nachrichten gar nicht mehr.

Das ist vermutlich der Grund dafür, warum 100 Millionen Menschen auf der Erde lieber den Bildern eines kleinen Hundes namens Jiffpom (einfach mal googeln) folgen als eine Petition zur Rettung der Amazonas-Schutzgebiete und zum Schutz des Organ Utans unterschreiben.

Größtes Schutzsgebietssystem der Welt in Gefahr! (PDF)

Dass Millionen junge Leute BibisBeautyPalace gucken und nur eine Handvoll sich für die Rechte asiatischer Näherinnen einsetzt.

Die Leute hatten ja Recht. Sollte es wirklich die Aufgabe von Bürgern sein, auf die Straße zu gehen und ein Schild hochzuhalten mit der Aufschrift:

„Lasst den Orang-Utans ihre Wälder!“ oder „Pro Näherin!“ „Nein zu Unterdrückung und Ungerechtigkeit!“ „Rettet die Welt!“

Aber nur rumsitzen und tun, als ob nichts wäre war ja auch keine Option.

Oder mussten wir einfach nur aus diesem Eigentlich heraus? Denn eigentlich wollten wir alle eine gerechtere Welt und ein anderes Leben.

Wir jubeln über die billigen Produkte und „Geiz-ist-geil“ , wir fahren Auto und benützen geteerte Straßen, wir fliegen mit Flugzeugen, wir kaufen ständig neue Sachen, billige Kleidung, die in Asien genäht wurde.

Wir hofieren die Schönen, Reichen, schauen die Prinzenhochzeiten, bewundern ihre teuren Yachten.

Wir alle wollen auf der Autobahn schnell vorwärts kommen, aber wir selber wollen keine Autobahn vor der Haustür.

Wir wollen guten Handy-Empfang, aber keinen Handy-Turm in der Nähe.

Wir wollen bequem durch die Welt fliegen, aber keinen Flughafen in der Nähe.

Wir wollen grüne Energie konsumieren, aber kein Windrad auf dem Hügel gegenüber.

Wir wollen alles bei amazon bestellen und am liebsten heute noch geliefert bekommen, schimpfen aber über große Lagerhallen auf grüner Wiese und über zu viel Lastwagenverkehr.

Zalando Logistik

Also: sind wir schizophren?

Wir leben im Eigentlich.

Eigentlich dürfte man gar nicht mehr fliegen. Eigentlich darf man keine Kreuzfahrten machen. Eigentlich sollte man Vieles gar nicht kaufen. Eigentlich hätte ich gerne mehr Zeit. Eigentlich würde ich gerne anders leben.

Plötzlich tauchte die Freundin meiner Kindertage wieder auf. Auch sie hatte sich jede Menge Gedanken gemacht und viel gelesen.

Sie fragte mich, ob ich mich noch an das Gespräch an dem Tümpel im Wald erinnerte.

Ja, sagte ich, wir wollten doch ein ganz besonderes Buch schreiben.

Ja, das wollten wir. Und dann rief sie laut: „Diese Bücher sind alle schon geschrieben! Und ständig kommen neue dazu. Da steht alles drin! Aufklärung pur.“

Und sie fing an, mir vorzuschwärmen: Kennst du Lessenich?

Gehört hatte ich schon von ihm.

Das Buch heißt „Neben uns die Sintflut“.  Youtube: Stephan Lessenich – Neben uns die Sintflut

Kennst du Jean Ziegler?„Die neuen Herrscher der Welt“. Er sagt: Wenn heute ein Kind an Hunger stirbt wird es ermordet.  Youtube: Jean Ziegler – Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen

Kennst du von Kathrin Hartmann: „Aus kontrolliertem Raubbau“? Youtube: Kathrin Hartmann – Aus kontrolliertem Raubbau

Klingt gut. Kennst du Niko Paech mit seiner Postwachstumsökonomie (PDF)? O ja, den hab ich sogar neulich getroffen.

Und so gab es ein fröhliches PingPong mit Titeln und Namen.

Christian Felber mit seiner Gemeinwohlökonomie (PDF)

Hans-Jürgen Krysmanski mit seiner Elitenforschung (Link zu einem Youtube Gespräch)

Wolfgang Streeck und Rainer Mausfeld mit ihren scharfsinnigen Analysen zur Finanzwelt und zur Aushöhlung der Demokratie.

Lobbypedia, wenn man mal genauere Infos zu TTIP, NAFTA oder JEFTA brauchte.

Sie alle und mit ihnen tausende andere hatten längst alles gesagt, was es zu sagen gibt und herausgefunden, was es herauszufinden gibt. Sie hatten tausende von Vorschlägen, was zu tun ist.

Meine Freundin war nicht zu den Indianern gekommen, auch nicht zu irgendeinem andern außereuropäischen Volk. Sie hatte sich einer Gemeinschaft angeschlossen, in der sie versuchten, sich mehr und mehr unabhängig zu machen. Belange der Ernährung, der Energieversorgung, des Transports und der Altersvorsorge versuchte man in Eigenregie zu bewältigen, ohne von großen Konzernen abhängig zu sein.

Sie war eben dabei, eine Aufbruch-Gruppe zu gründen.     Aufbruch – Basistext (PDF)

Sei selber zufrieden. Sei nicht neidisch oder gierig. Sei voller Mitgefühl für die anderen Menschen.

Tu nichts, was einem anderen Leid zufügt. Tu alles, damit es allen gut gehen kann.

Orientiere dich an dem, was die Alten schon seit vielen tausend Jahren sagen, was die Weisen von Generation zu Generation weitergeben.

Allen Menschen müssen die Menschenrechte zustehen, aber sie müssen auch die Menschenpflichten erfüllen.    Menschenpflichten (PDF)

Die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen muss Priorität vor allem anderen haben.

Die Wälder dieser Erde müssen erhalten bleiben.

Die fruchtbaren Böden der Erde dürfen nicht unter Beton verschwinden.

Indigene Völker sollen auf ihren angestammten Land bleiben dürfen, wenn sie das wollen und die Kleinbauern weltweit sind zu unterstützen. Daher müssen die Exporte EU-subventionierter Agrarprodukte in südliche Länder aufhören.

Agrarkonzerne und ihre umweltschädlichen Monokulturen auf Megaflächen müssen ausgebremst werden.

Sämtliche Produktion, der Verkehr usw. muss 100% nachhaltig werden.

Ich hatte heftige Zweifel.

Sollten diese hehren Ziele wirklich erreichbar sein und was das der richtige Weg dorthin?

Ich sah mir die Unterlagen meiner Freundin durch und war ziemlich skeptisch.

Vergiss nicht, sagte sie, „Wir sind die 99%“!

Doch noch bevor ich mir recht überlegen konnte, was ich davon halten sollte geschah ganz anderes und völlig Unerwartetes. Es traf mich wie ein Schlag:

Die Motorsägen kamen vor meine eigene Haustür!

Mein 850-Seelen-Dörfchen lag zwar inmitten von Wald und Feld, aber dummerweise in unmittelbarer Nähe zur Autobahn.

Die Stadtverwaltung hatte sich im Ländle umgesehen und festgestellt, dass alle anderen Orte entlang der Autobahn ihre Gewerbegebiete hatten, nur wir nicht. Das sollte nun dringend geändert werden. Die Gewerbetreibenden stünden angeblich schon Schlange und scharrten mit den Hufen, allen voran die Logistik.

Unser liebstes Waldstück samt vorgelagerter Äcker sollte nun zerstört und zubetoniert werden, um gewerbliche Flächen zu gewinnen.

Als wir es erfuhren, geriet das ganze Dorf in eine Art Schockstarre, aus der es aber rasch erwachte, um lauthals und in der Liebe zur Heimat vereint seinen Protest kundzutun.

Und ich? Ich war natürlich an vorderster Front mit dabei. Das bedeutete: Ich musste vorerst meinen Kampf für die tropischen Regenwälder auf Eis legen – jetzt wurde ich hier gebraucht!

Die Leute im Dorf verhielten sich vorbildlich. Sie informierten sich gründlich über die Hintergründe und die Hintergründe der Hintergründe. Sie klopften Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin ab, deckten Widersprüche auf, rechneten alles durch und befragten unbefangene Experten. Sie lernten Vokabeln wie „gesetzliche Umlegung“, „Umweltverträglichkeitsprüfung“, „Abwägungsdisproportionalität“ und sprachen sich gegenseitig Mut und langen Atem zu. Sie reagierten mit Witz und Elan auf jeden Schritt, den die Obrigkeit tat. Sie machten ihren Widerstand sichtbar und zeigten der ganzen Stadt, dass die Planer dabei waren, einen kapitalen Bock zu schießen. Die Stadt brauche tatsächlich einen vernünftigen Plan, wo es denn hingehen solle, aber nicht so.

Die Stadt hatte selber gesagt, Gewerbesteuereinnahmen seien nicht ausschlaggebend, aber man wolle Arbeitsplätze schaffen und die Auspendlerzahl senken. Weitere Argumente für das Projekt gab es nicht. Es gab noch haufenweise erschlossene, aber ungenutzte und brachliegende Grundstücke in den bestehenden Gewerbegebieten.

Die Stadt sah sich im Recht und warf den widerspenstigen Dorfbewohnern vor, sie wären allesamt große Heuchler. Früher seien sie konservativ und tendenziell rechts gewesen, jetzt auf einen Schlag dunkelgrün. Früher wäre ihnen die Zerstörung der Umwelt egal gewesen, jetzt plötzlich war es ihr großes Thema. Das läge doch nur daran, dass sie selbst betroffen wären und alles vor ihren Türen stattfände. Kein Hahn aus ihrem Dorf hätte je nach Vermeidung von Flächenverbrauch gekräht und jetzt erkläre man sich plötzlich zum blauen Engel. Floriansprinzip pur. Die Obrigkeit sprach von Zukunft, die Dörfler von einer anderen Zukunft.

Die Dorfbewohner ließen sich nicht beirren und blieben immer bereit zum Dialog.

Ihr kauft doch auch alle bei amazon und zalando ein, warum verteufelt ihr die Logistik? sagte der Oberbürgermeister.

Jetzt reicht’s! riefen sie.

Das wollten sie nicht auf sich sitzen lassen.

Sie kamen zusammen und beratschlagten sich.

Hatten sie doch schon seit geraumer Zeit von all diesen Themen gesprochen, so war es jetzt endlich an der Zeit, gute Ideen umzusetzen.

Wenn sie wirklich den Wald vor ihrer Tür erhalten wollten und gegen neue Gewerbegebiete waren und wenn ihnen wirklich das Wohl der Stadt, aber auch das der Natur und der ganzen Welt am Herzen lag, dann mussten sie einen ganz neuen Weg gehen.

Sie würden diejenigen sein, die voran gehen. Jetzt erst recht!

Komitees und Gruppen wurden gebildet, Ideen geschmiedet, Rat eingeholt. Alle machten mit. Die abstrusesten Ideen wurden eingereicht. Es wurde diskutiert, geprüft, ausprobiert. Nichts sollte unmöglich sein.

Schließlich einigte man sich auf einen 30-Schritte-Plan, den man gemeinsam umsetzen wollte.

Hier nur ein Auszug: (..und spätestens ab hier ist so Manches mit einem Augenzwinkern zu lesen…Erst mal muss man träumen…)

Schritt 1: Die Bauern auf der Gemarkung stellen auf Bio-Landwirtschaft um.

Schritt 2: Unabhängig werden! Das Dorf deckt seinen Nahrungsbedarf eines Tages komplett durch seine eigenen Bauernhöfe. Um für Vielfalt zu sorgen machen alle Dorfbewohner Kurse in Garten-, Ackerbau, Wildkräuterkunde und Hühnerhaltung und züchten fortan in ihren eigenen Gärten und auf Balkonen alles, was zur Versorgung des ganzen Dorfes nötig ist.

Schritt 3: Dorfbewohner, die Lust auf Arbeit im Freien haben und einen Ausgleich zu Büro und Werkshalle suchen gehen Schädlinge auf den Feldern abpflücken, wenn chemische Mittel zu deren Bekämpfung nicht mehr erlaubt sind. Im Gegenzug erhalten sie das produzierte Gemüse oder Getreide deutlich günstiger oder sogar kostenlos.

Schritt 4: Nur noch jeder zweite Haushalt wirft zum Kochen die Herdplatten an, kocht dafür aber die doppelte Menge, so dass im Turnus und nach Gustus Essen mit den Nachbarn getauscht wird.

Schritt 5: Die Bewohner reduzieren die Zahl ihrer Autos auf ein Minimum. Alle privaten Zweitwagen werden abgeschafft und zehn gemeinschaftlich genutzte Wagen angeschafft. Notwendige Fahrten werden in den dörflichen Terminkalender eingetragen, möglichst viele Fahrten zusammengelegt und die Tage in Absprachen miteinander koordiniert. Eingekauft wird nur noch mit voll besetzten Autos. Als zusätzliche Verkehrsmittel werden Pferde von den umliegenden Höfen eingesetzt. Siehe außerdem Schritt Nr. 10.

Schritt 6: Energie: Die Bewohner machen sich unabhängig von fremden Versorgern und werden zum wahren Vorreiter der klimaneutralen Kommune. Selbstgebaute Kleinwindanlagen aus weitgehend natürlichen Materialien werden an allen windigen Orten aufgestellt und hintereinandergeschaltet. An sämtlichen Kinderschaukeln, Trampolins und Fitnessgeräten des Dorfes werden kleine Abnehmer installiert, in denen Bewegung in Strom verwandelt und zwischengespeichert wird.

Schritt 7: Die Dorfbewohner sprechen sich mit ihren Fernsehprogrammen ab, so dass jeweils alle, die das gleiche schauen im Turnus jeweils nur ein Gerät laufen lassen und dabei im Winter auch nur ein Wohnzimmer pro Sendung einheizen müssen.

Schritt 8: Das Fernsehen wird schrittweise durch Vorlese-Abende und Stubenmusik ersetzt, so dass die neue Generation wieder ganz ohne TV aufwächst.

Schritt 9: Wie in Schritt Nr. 6 werden auch für Handarbeiten Absprachen für Zusammenkünfte getroffen, so dass im Winter weniger Wohnzimmer geheizt werden müssen.

Schritt 10: Sämtliche organische Abfälle, die nicht zur Kompostierung nötig sind, inklusive Fäkalien werden in einer kleinen Faulgasanlage in Energie umgewandelt und zum Betanken der Autos verwendet.

Schritt 11: Konsum: Sämtlicher Konsum umweltfeindlicher und menschenverachtender Güter wird auf ein Minimum reduziert: Recycling, Tausch, gemeinsame Nutzung, Reparatur. Plastik wird ganz ausgeschlichen.

Usw.

Insgesamt reichten 30 Schritte aus, um unser Dorf einmal umzukrempeln. (Der Name steht ganz unten)

Wie es weiterging:

Die Stadt sah von der Entwicklung gewerblicher Fläche an der Autobahn ab. Stattdessen ließ sie sich den Status „Tourismusstadt“ zertifizieren und putzte sich an allen Ecken und Enden heraus. Übernachtungsmöglichkeiten wurden geschaffen. Auf einer zentral gelegenen Brache wurde Betreutes Wohnen für gehobene Geldbeutel errichtet, das wohlhabende Senioren aus der ganzen Republik anzog.

Die städtischen Betriebe und die meisten privaten schlossen sich wahlweise der ökosozialen Marktwirtschaft oder der Gemeinwohlökonomie an.

Fehlende Einnahmen der Stadt wurden durch ehrenamtliche Arbeit ausgeglichen und das lang ersehnte Freibad wurde von den Bürgern kurzerhand selbst gebaut.

Wie ein Pfau stolzierte die Stadt fortan auf den Messen umher und präsentierte sich stolz.

Unser Dorf erhielt als erstes bundesweit das neue Siegel „Nachhaltiges Dorf“.

Täglich werden Führungen angeboten, um Interessierten aus sämtlichen Teilen des Landes und von jenseits der Grenzen zu zeigen, was alles möglich ist.

Es wird erwogen, eine Dorf-Währung einzuführen oder das Geld ganz abzuschaffen. Heute engagieren sich fast alle Dorfbewohner im weltweiten Kampf für die Erhaltung von Wäldern.

Wir wurden die Vorreiter für eine neue Welt und wichtige Impulse gingen von hier um die ganze Erde.

Schließt euch an! Es gibt noch viel zu tun!

Der Ziegelstein? Er liegt mitten in meinem Kopf. Auf ihm stehen all die Fragen. Wer weiß Antwort? Bitte melden.

Warum konnten die Menschen nicht einfach friedlich auf ihrem schönen Planeten zusammen leben, sich mit dem Nötigten versorgen und das Leben genießen?

Der Name des Dorfes? Phantasingen.